Ich blicke in Dein Gesicht und erkenne dunkle Flecken auf weißem Hintergrund:
Das Muster wandelt sich, ist stets in Bewegung, an was erinnert es mich nur, ich komme etwas näher, ich kann es noch nicht bestimmen. Du und ich sitzen an einem Tisch. Ich habe Dir einen Tee gemacht. Die Tasse schiebst Du etwas verlegen zwischen den Händen hin und her. Ich lächle dich aufmunternd an, damit Du dich wohler fühlst. Du wirkst etwas schüchtern auf mich, aber vielleicht liegt es an Deinem jungen Alter, oder an der ungewohnten Situation. Ich frage Dich, ob du etwas essen willst, doch Du schüttelst den Kopf. Ich bin hungrig und platziere ein paar Kekse zwischen uns. Nun bist Du schon mehrere Jahre im Lillian-Charlton-Pflegeheim für schwererziehbare Kinder. Geht es Dir gut hier? Ja? Das ist schön. Ich freue mich für Dich. Deine Noten sind prima, Deine Lehrer loben dich, Du bist ein sehr kluger junger Mann, Walter. Ein guter Sportler bist Du auch. Wer hätte das gedacht, denke ich mir, als ich den rothaarigen Jungen, also Dich, betrachte, wie Du da unsicher und fügsam vor mir sitzt. Deine Akte war keine leichte Sommerlektüre. Von der Mutter missbraucht und vernachlässigt. Von ihren Freiern regelmäßig gequält. Auf Grund Deiner Lebenssituation und der Tatsache, dass die Mutter in der Straße anschaffen ging, von den Jungs aus der Nachbarschaft drangsaliert und verfolgt. Wie lange hattest Du das durchmachen müssen?
Mit 11 Jahren blendetest Du einen der Jungs, die Dir das Leben zur Hölle machten und kamst dann in staatliche Obhut. Doch scheinbar ist das, so seltsam das auch klingt, das Beste, was Dir hätte passieren können. Bedauerlicherweise wollte die Mutter keinen Kontakt mehr mit Dir und Dein Vater ist uns unbekannt. So ist dieses Heim ein besseres zu Hause geworden, als Dein letztes.
Ich betrachte Deinen Kampf mit Dir selbst. Du willst die Kekse doch, traust Dich aber nicht, sie Dir zu nehmen. Ich schiebe den Teller mit einem Lächeln in Deine Richtung. Du überwindest Dich und greifst dankbar zu.
Was sind Deine Pläne, Walter? Was wirst Du tun, wenn Du das Heim verlässt? Du weißt es nicht? Das macht nichts, viele in Deinem Alter wissen das nicht, aber keine Sorge, das kommt noch, die Welt steht Dir offen, aus einem so klugen Schüler wie Dir kann alles werden. Was machst Du denn am liebsten? Lesen und Boxen? Religion interessiert Dich auch, so so. Ich lächle dich freundlich an. Ich bin erleichtert über Deine Entwicklung. Deine Kindheit hat Dein Leben nicht endgültig ruiniert und ich denke, dass Du den nächsten Schicksalsschlag, dessen Verkündung meine traurige Aufgabe ist, gut meistern wirst.
Walter, Du fragst dich sicher, warum ich hier bin und mit Dir rede. Ich muss Dir leider mitteilen, dass Deine Mutter vor kurzem verstorben ist. Es tut mir Leid, junger Mann.
Du beißt in den Keks, als ich dir das sage und hältst für einen Moment die Luft an. Dann schluckst Du den Bissen mit einem lauten Geräusch die Kehle runter, spülst mit einem Schluck Tee nach, setzt die Tasse ab und sagst, ohne eine Miene zu verziehen:
"Gut."
Ich blicke in Dein Gesicht und erkenne dunkle Flecken auf weißem Hintergrund:
Jedes Mal, wenn ich Dir begegne, weiß ich nicht, wer Du bist und wen ich vor mir habe. Genau wie deine Maske, die mit Schatten spielt und nie den selben Ausdruck hat, genauso bist du.
An einem Tag erblicke ich #Rorschach, der, anders als der gebeutelte Matrose im Comic, nicht zugelassen hat, dass ihn die Angst beherrscht. Nein, er nutzt sie als Kraft, als Motor. Angst und Wut treiben ihn voran. Auch er hat in den Abgrund gesehen, auch aus ihm blickt der Abgrund zurück, doch er löst sich nicht in Wahnsinn auf, sondern erklärt dem Wahnsinn anderer den Krieg. Er ist nicht gut, er ist nicht böse, er ist auf seine Weise alttestamentarisch gerecht. Es geht um das Prinzip.
An einem anderen Tag sehe ich #WalterKovacs an der Bar sitzen, schüchtern, griesgrämig, aber immer noch ein Mensch, ein Teil von dieser Welt. Ein Mensch mit einem Gesicht, jemand, der noch nicht am Tod von Kitty Genovese, Blair Roche, der kleinen 6-Jährigen, und an Nancy zu Grunde gegangen ist.
Und wenn ich Dir besonders nahe komme, an den ganz seltenen Tagen, dann kann ich den kleinen Walter sehen, der geliebt werden wollte, von einer Mutter, die ihn verabscheute, der ein Zuhause haben wollte, in einer Stadt, die kein Erbarmen mit ihm kannte, der ein kluger, erfolgreicher Ehemann und Vater hätte werden können, in einer Welt, die ihm das verwehrte. Walter, Du verachtest die Nutten, die Diebe, die Mörder, Du bist konservativ und engstirnig, Du bist gewaltbereit und ein Mörder. Doch wenn ich in Deine Maske blicke und Du mich fragst, was ich sehe, dann antworte ich:
Die Wahrheit.
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