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Prolog

 

1. Mai 1876

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Das Licht der Laterne blendete George. Schützend bedeckte er seine Augen. Der Gentleman, der sich ihm vor wenigen Stunden als Mr. Smith vorgestellt hatte, ging weiter und mit ihm verschwand das grelle Licht. Es dauerte eine Weile, bis sich Georges Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er den Spaten ansetzen konnte, um weiter zu graben.

Während er die Erde zu seinen Füßen umwühlte, suchten Mr. Smith und sein Begleiter die Umgebung ab.

Sie sollten das lassen, dachte George und rammte verärgert den Spaten in den Boden. Womöglich konnte man sie und die Laterne aus der Ferne sehen. Falls Evans noch nicht zu Bett gegangen war, würde er von seiner Hütte aus auf das Licht aufmerksam werden und mit seinen Söhnen kommen, um nachzusehen, wer weit nach Mitternacht hier auf dem Acker sein Unwesen trieb.

Anstatt in der Dunkelheit herum zu irren, sollten die Gentlemen ihm lieber helfen. Es ärgerte ihn, dass sie ihn die Drecksarbeit alleine machen ließen. Warum hatten sie überhaupt drei Schaufeln mitgenommen, wenn jetzt nur er graben musste?

Er sollte mit dem Buddeln aufhören, aus dem Loch steigen und die beiden auffordern, selbst Hand anzulegen.

Ja, genau, das sollte er tun!

Schließlich war vereinbart gewesen, dass er ihnen lediglich die Stelle zeigte, wo seine Lordschaft die letzten Funde gemacht hatte. Nicht, dass er für sie die Drecksarbeit erledigte. Davon war nicht die Rede gewesen.

Entschlossen begradigte George unter Stöhnen seinen Rücken, als plötzlich die Erde unter ihm nachgab. Er verlor den Halt und stürzte in die Tiefe.

Panik überkam ihn. Er wollte schreien, doch die über seinen Kopf hereinbrechenden Erdmassen erstickten jeden Laut. Feuchte Erde und Sand gelangten in seinen Mund und die Atemnot ließ ihn würgen.

Er landete unsanft, hart und kalt. Ihn umgab kompromisslose Dunkelheit. Erschrocken blickte er sich um, ohne auch nur ansatzweise etwas ausmachen zu können, das ihm Auskunft darüber geben konnte, wo er sich befand. Angewidert spuckte er den Dreck aus seinem Mund und wischte sich über die Augen. Die Dunkelheit blieb.

Auf allen Vieren ertastete George vorsichtig seine Umgebung. Gestein, Erde, Geröll und Wurzeln waren zu spüren. Er musste in eine Art Hohlraum gefallen sein. Langsam stand er auf und sah nach oben. Den Mond konnte er durch das entstandene Loch nur erahnen. Die Nacht war bewölkt und hüllte den vollen Himmelskörper in Nebel.

»Hey«, rief George zaghaft. Der Sand zwischen seinen Zähnen knirschte. Voller Abscheu spuckte er erneut aus.

»Hey«, rief er noch einmal, diesmal lauter.

Zunächst reagierte niemand. Von fern erklang ein Kuckuck, ansonsten war es still. George holte Luft, um lauter zu rufen, hielt jedoch inne, als er Licht ausmachen konnte. Jemand leuchtete von oben in das Loch hinein.

»Schau an! Du hast etwas gefunden. Sehr gut«, sagte Mr. Smith. Der hagere Mann war George von Anfang an nicht geheuer gewesen. Sein unerbittlicher, unnachgiebiger Blick machte ihn nervös.

Die Lampe wurde an einem Seil befestigt und nach unten gehievt. Langsam kam sie auf George zu. Er nahm sie entgegen und löste das Seil, damit es wieder nach oben gezogen werden konnte.

George hob die Lampe hoch und drehte sich im Kreis. Er befand sich in einem viereckigen Raum, dessen Wände zum Teil verputzt, teilweise bemalt und mit eingelassenen Pfeilern geschmückt waren. Selbst die halb eingefallene Decke musste ursprünglich aufwendig verziert gewesen sein. Ein Drittel von ihr war mit George eingebrochen und lag auf Sarkophagen verteilt. George konnte vier davon ausmachen. Ein kleiner Schauer durchzog ihn, als er begriff, wohinein er gefallen war.

Jemand ließ sich langsam am Seil herunter. Ein schwerer Körper kam neben George auf und nahm ihm die Laterne ab. Ein Pfiff der Anerkennung entwich dem namenlosen Gentleman, der mit Mr. Smith gekommen war und bis jetzt nichts von sich preisgegeben hatte.

»Das sieht vielversprechend aus.« Der Mann klopfte George zufrieden auf die Schulter und näherte sich einem der Sarkophage. Vor sich hin murmelnd wischte er Staub und Erde von dem Sarg.

Auch Mr. Smith hangelte sich zu ihnen herunter. Er lachte zufrieden, als er den Fund sah. Sie mussten das gefunden haben, worauf sie spekuliert hatten.

Langsam gingen sie die Sarkophage entlang und leuchteten sie nacheinander ab. Hin und wieder nahmen sie herumliegende Keramik in die Hand und legten sie wieder zurück. In einer der Wände befanden sich Nischen, in denen reich verzierte Urnen aufgestellt waren. Als Mr. Smith sie vom Staub befreite, offenbarten sie hübsche, filigrane Verzierungen.

Georges Aufmerksamkeit fiel auf einen Gegenstand in einer dunklen Ecke, der das Licht der Lampe reflektierte und jedes Mal aufblitzte, wenn der Schein auf ihn fiel. Davon angezogen, ging George auf ihn zu und blieb neben einem reliefverzierten Sarkophag stehen.

Die zwei Gentlemen aus London waren zu sehr mit den Urnen beschäftigt, um den Pächter zu beachten.

Lange Schatten zogen sich über den staubigen und mit altem Dreck überzogenen Marmorsarkophag. Ein verschmutzter Muskelpanzer lag daneben. Er war halb mit Erde bedeckt und musste von den Erdmassen, mit denen George eingebrochen war, bewegt worden sein. Das Funkeln blitzte kurz auf. Ohne zu wissen, warum er ihn derart anzog, beugte sich George wie fremdgesteuert über den Brustharnisch.

Er erschrak aufs Fürchterlichste.

Aus leeren Augenhöhlen starrte ihn ein nur zum Teil erhaltener Schädel an. Er gehörte zu einem Skelett, das halb verborgen in und unter der Rüstung lag. Hastig machte George einen Schritt zurück. Gänsehaut überzog seinen Körper und stellte seine Haare auf. Ihm wurde kalt und klamm zumute.

Er sollte nicht hier sein. Das war kein Ort für Lebende.

Sie hatten vermutet, dass hier unter der Erde eine vergrabene Villa lag, wie auch unweit des Hauses von Evans und seinen Söhnen. Doch das hier war eindeutig eine Grabkammer, ähnlich der, die man ganz in der Nähe am Waldrand gefunden hatte.

Furchterfüllt bekreuzigte sich George mehrfach, während er ein Stoßgebet aufsagte. Das erregte die Aufmerksamkeit der beiden Gentlemen. Sie kamen näher, um zu sehen, was ihn so ängstigte. Auch sie erschraken, als sie das Skelett des römischen Legionärs sahen. Doch der Anblick des Sarkophags daneben lenkte sie schnell ab.

Ehrfürchtig zog der alte, namenlose Mann die kunstvoll gearbeiteten Reliefs nach und befreite sie vom Staub, während Mr. Smith ihm Licht spendete.

Selbst George, der nichts von Kunst verstand und nur ab und an zufällig mit Überresten römischer Werke auf den Feldern in Kontakt gekommen war, erahnte den Wert dieser Arbeit. Sie musste von einem Meister angefertigt worden sein.

Mr. Smiths Begleiter deutete auf die Leiche neben dem Sarkophag und sagte:

»Womöglich war er da drin. Jemand hat ihn herausgeholt.«

 »Kann nicht sein! Der Deckel liegt noch auf dem Sarkophag.«

Der ältere Mann nickte und musterte noch einmal eingehend die Rüstung und das Skelett darin.

»Ein Centurio in einer Prachtrüstung neben einem Feldherrnsarkophag. Er muss sich darin befunden haben. Kein Zweifel.«

Wieder blitzte es im Lichtschein auf. Der Mann rollte den Schädel beiseite und zog etwas Rundes aus dem Brustharnisch. Ohne einen Blick darauf zu werfen, reichte er es Mr. Smith.

»Was ist das?«, fragte dieser und sah es verdutzt an.

Sein Partner zuckte mit den Schultern.

»Ein silbernes Abzeichen womöglich. Bei diesen Lichtverhältnissen schwer zu erkennen.« Er richtete sich wieder auf und sah nachdenklich auf den Sarkophag. »Wir sollten nachsehen, durch was die Leiche ersetzt wurde.«

Ohne Kommentar stellte Mr. Smith die Laterne in eine Nische und zog sein Jackett aus. Der Andere tat es ihm gleich und winkte George heran.

Der schüttelte jedoch den Kopf. Er wusste, dass sie den Deckel des Sarkophags anheben wollten und er ihnen dabei helfen sollte. Alles in im sträubte sich dagegen.

Skulpturen und Keramik auszugraben, die über das Land verstreut lagen, und sie unter der Hand zu verscherbeln, war eine Sache. Die Totenruhe zu stören, war eine ganz andere. Damit wollte George nichts zu tun haben.

Er bekreuzigte sich erneut.

»Na los«, sagte Mr. Smith ungeduldig. »Stell dich nicht so an. Die sind alle zu Staub zerfallen und es ist ihnen egal. Also komm, hilf uns.«

Der junge Pächter ging noch einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken an die Wand. Seine Brust hatte sich vor Furcht zusammengezogen, sein Mund schmeckte nach modriger Erde und Tod. Er wollte weder die Ruhe dieses Legionärs stören noch die der anderen Menschen, die hier bestattet waren.

Der achtlos umgekippte Schädel auf dem Boden starrte ihn im flackernden Licht bedeutungsschwer an. Ganz so, als wollte er ihn mahnen, zu gehen. Er sollte diesen Ort so schnell wie möglich verlassen.

Von seiner Ängstlichkeit genervt, wandten die Gentlemen sich von ihm ab. Sie bemühten sich, den Deckel zu zweit vom Sarkophag zu schieben. Es tat sich bei aller Mühe nichts. Schließlich drehte sich Mr. Smith ungeduldig um, packte den jungen Pächter am Arm und schob sein hageres, strenges Gesicht ganz nah an das von George.

»Entweder du hilfst uns jetzt, oder du bekommst keinen einzigen Penny zu Gesicht.« Er schubste ihn unsanft in Richtung des Sarkophags. Das wenige Licht in der Kammer zeichnete tiefe, bedrohliche Schatten in das Gesicht des unfreundlichen Mannes.

George fürchtete sich in diesem Moment mehr vor ihm als vor diesem Ort und fügte sich seinem Schicksal. Gemeinsam und unter größter Anstrengung gelang es ihnen, den Deckel zur Seite zu schieben, bis er herabkippte und in der angehäuften modrigen Erde liegen blieb.

Völlig aus der Puste und erschöpft, lehnte sich George gegen die Wand. Er vermochte nicht zu sagen, ob seine Hände vor Anstrengung oder vor Angst zitterten. Sein Gesicht war vom Sarkophag abgewandt. Nicht einmal einen Blick wollte er auf das werfen, was dort womöglich lag. Das schlechte Gewissen plagte ihn. Er hätte sich nicht auf die beiden einlassen sollen und ihnen nicht die Orte zeigen dürfen, an denen sein Schirmherr, der Earl of Cumberland, noch mehr römische Funde vermutete.

Er hätte bei seiner Mutter bleiben sollen, die ihn vor wenigen Stunden angefleht hatte, heute nicht das Haus zu verlassen. Gestern Nacht hatte sie von Gedärmen geträumt und das als böses Omen gedeutet. Er wollte es als Gewäsch einer alten Frau abtun und konnte doch an nichts anderes mehr denken als an ihre beschwörende, ängstliche Stimme.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie die beiden Gentlemen begeistert im Sarkophag herumwühlten. Es klimperte. Womöglich waren sie auf Münzen gestoßen. Immer wieder kamen Laute der Entzückung aus ihrem Mund.

Es machte George nicht neugierig, was es am Ende war. Im Gegenteil. Sein Gefühl sagte ihm, es sei so oder so verflucht. Alles, was sie hier fanden, stammte aus einem Nicht-Ort, zu dem Lebenden kein Zutritt gewährt werden sollte. Es hatte keinen Nutzen für die Lebenden, denn es war aus der Zeit gefallen und nicht für sie bestimmt.

Entschlossen ging George zurück in die Mitte des Grabes und zog an dem Seil, um seine Stabilität zu prüfen. Er musste einfach hier weg. Die Angst wollte nicht weichen, sondern wuchs von Minute zu Minute und nagte an ihm. Seinetwegen sollten sie sich ohne ihn die Taschen mit allem vollmachen, was sie in dem Sarkophag gefunden hatten.

»Wo willst du hin?«, fragte Mr. Smith mit schneidender Stimme.

»Nu- … nu- … nur … nach oben, an die frische Luft«, stotterte George. »Ich will nichts davon. Ich will nur wieder hoch«, versicherte er, als er bemerkte, wie skeptisch und vorsichtig Mr. Smith wurde. Anstatt George zu antworten, wandte er sich kommentarlos zu seinem Partner. Dieser war in stille Betrachtung vertieft und schenkte ihnen beiden keine Beachtung.

Erleichtert drehte sich der junge Pächter wieder um und griff nach dem Seil. Gerade im Begriff, sich hochzuziehen, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Er machte einen Schritt zur Seite, um auszuweichen, doch er war zu langsam. Etwas Hartes traf ihn am Hinterkopf. Benommen ging er zu Boden. In Panik versuchte er, sich aufzuraffen und zugleich mit einer Hand seinen Kopf zu schützen, als er erneut getroffen wurde. Diesmal härter und gezielter. Er hörte das Knacken seines Schädels. Ein schauriges Geräusch.

Langsam dämmerte er hinweg. Das Letzte, woran er dachte, war die Warnung seiner Mutter, nicht aus dem Haus zu gehen.

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