KAPITEL I
- Leah Hasjak
- vor 4 Tagen
- 8 Min. Lesezeit

Frühjahr 1793
Portsmouths Hafen roch nach Salz, Fisch und verbranntem Teer. Philippa Marchmont hielt den Atem an, als sie versuchte, zwischen zwei Ziegenkarren hin durchzuschlüpfen, ohne ihren blauen Mantel zu beschmutzen. Ihre Anstandsdame, Miss Hewish, befand sich weit vor ihr – wie üblich – stets am Vorrauseilen.
Sie bog in eine schmale Seitenstraße ein, wo eine Reihe von Marktständen dicht an dicht stand – Gewürze, Tücher, geräucherte Fische, Lederbeutel, zerlesene Bücher, Glasperlen. Ein älterer Herr bot inbrünstig Aale in Zeitungspapier an. Mit einem verlegenen Lächeln wich sie ihm und seinen zahnlosen, aufdringlichen Lächeln aus. Neben ihm stapelten sich Fischkörbe aus Weidengeflecht, und dann – etwas weiter – entdeckte sie sie.
Kleine Schalen, geformt wie Meerestiere. Einige wie Jakobsmuscheln, andere wie winzige Rochen oder Tintenfische. Die Glasuren waren unregelmäßig, in blassem Türkis, graublau oder muschelweiß, mit dunklen Sprenkeln.
Philippa bückte sich und nahm eine auf. Sie war schwerer, als sie aussah, kühl, mit feinen Rillen. Sie drehte sie vorsichtig zwischen den Fingern. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Nicht auf den höfischen Festtafeln ihrer Mutter, nicht in Bath, nicht im Salon ihrer Patentante.
»Was verlangt Ihr für diese?«
Die Händlerin, eine grobe Frau mit wettergegerbter Haut und einem Kopftuch, das ihre Locken nicht bändigen konnte, musterte sie mit einem schnellen, prüfenden Blick. »Drei Pence für Euch. Oder fünf für zwei. Nehms zwei, is besser fürs Gleichgewicht. Gutes Paar.«
»Miss Marchmont!«, erklang es streng, ehe Philippa über das Angebot nachdenken konnte. Sie fuhr herum. Miss Hewish kam auf sie zugeschritten. Die Stirn in Falten. Hände fest um den Griff ihrer Geldbörse geschlossen, bereit jeden, der sich an ihr vergriff, damit zu erschlagen. »Da seid Ihr ja. Wir haben keine Zeit für Trödel. Das Schiff wartet nicht auf seine Passagiere. Es segelt ohne uns davon.«
»Aber seht nur!« Philippa hielt die beiden kleinen Schalen hoch, wie Beweisstücke in eigener Sache. »Sie sehen aus wie Meeresfrüchte. Und sie sind so schön. Ich hätte sie gerne als Erinnerung.«
Miss Hewish schüttelte ungerührt den Kopf. »Das ist billige Ware. Eure Mutter duldet keinen Schund, das wisst Ihr. Ich sehe, dass Ihr mir widersprechen wollt, doch ehe Ihr mich erneut in lange, unnötige Diskussionen drängen wollt, seid Euch jedoch bewusst, dass wir in Eile sind. Bitte, Miss Marchmont – gebt das zurück.«
Philippa rührte sich nicht. Sie versteifte sich, ihr Gesicht spannte sich sichtbar an, sie spürte, wie ihre Wangen sofort rot wurden. »Wenn das so ist, dann sollten wir sie sofort bezahlen, ohne zu feilschen. Fünf Pence für beide —«
»Nein, selbst fünf Pence sind dafür zu viel. Und sie wissen, dass es Ihnen nicht zusteht, Ausgaben ohne Rücksprache zu tätigen.« Miss Hewishs Stimme war nicht laut, aber scharf genug, dass die Frauen an den benachbarten Ständen zu schweigen begannen und sich in ihre Richtung drehten. Man beäugte sie neugierig. »Gebt sie zurück.«
Philippa sah auf die Muschelschalen in ihren Händen herunter. Nun wollte sie sie um so mehr. Ihre Wut stieg und zugleich auch die Ohnmacht gegenüber Miss Hewish, die über sie und ihr Geld verfügte, weil ihre Mutter es so beschlossen hatte.
Die Händlerin sah von ihr zu Miss Hewish. Dann legte sie ruhig die Hand auf ihre Ware und nahm Philippa die Schalen weg. »Ist schon gut, Mädchen. Kommt ein andermal wieder. Wenn Ihr dürft.«
Philippa spürte wie Scham ihr Gesicht noch weiter erhitzte. In diesem Sommer würde sie 21 Jahre zählen, und man ging mit ihr um, als wäre sie keine Zehn. Ihre eigene Hilflosigkeit schürte ihr die Kehle zu.
Miss Hewish trat näher zu ihr, die Augen fest auf sie gerichtet, ihre Stimme gedämpfter, aber unnachgiebig. »Miss Marchmont, genug. Ihr wisst, dass ich keine Einkäufe genehmigen darf, die nicht vorher abgesprochen wurden. Und das hier—das ist überflüssiger Tand.«
Philippa verschränkte die Arme.
»Ich möchte sie dennoch.« Ihre Stimme wurde beinahe von der Wut verschluckt.
Miss Hewishs Augen verengten sich. »Das mag sein. Doch Ihr bekommt sie nicht.«
»Wenn Ihr mir nicht entgegen ko–«
»Nein«, unterbrach Miss Hewish scharf. »Ich lasse mich nicht erpressen. Eure Mutter hat mir klare Anweisungen gegeben, und ich werde mich daran halten.«
Philippa verstummte, die Lippen aufeinandergepresst. Miss Hewish warf ihr einen letzten prüfenden Blick zu, dann löste sie sich von ihr und verkündete: »Beeilt Euch, sonst fährt dieses Schiff ohne uns. Und dann dürft Ihr es eurer Mutter erklären.«
Sie wandte sich ab, ließ den Stand, die Schalen und Philippa stehen und verschwand in der Menge wie ein grauer Schatten, aufgesogen zwischen Matrosen, Weibern mit Körben und Hafenarbeitern mit Strickhauben.
Philippa blieb allein zurück. Ein Luftzug vom Meer her fuhr ihr in den Kragen, und die Geräusche des Hafens kamen ihr erdrückend laut vor: das Kreischen der Möwen, das Pfeifen der Taue, das Poltern von Holz auf Holz.
Ihr Trotz wurde fortgeweht. Nur Scham blieb. Die Händlerin sah sie mitleidig an. Nicht spöttisch. Nicht abschätzig. Sondern wie jemand, der viel gesehen hat, und viel verstanden. Philippa senkte den Blick, drehte sich um und drängte sich zwischen den Menschen hindurch zurück Richtung Kai.
Ein Glockenschlag hallte über den Hafen.
Das Schiff!
Ihre Augen suchten fieberhaft nach dem grauen Umhang, dem festen Nacken, dem sicheren Schritt von Miss Hewish – und fanden nichts. Wenn sie jetzt einfach stehen blieb – wenn sie bummelte, zögerte, ein wenig trödelte – und das Schiff verpasste, dann würde Miss Hewish es erklären müssen. Miss Hewish, die so stolz auf ihre Planung war. Miss Hewish, die jeden Penny von Philippas Geld behandelte, als wäre er ihr eigenes Erbe.
Philippa hatte keine Verantwortung. Sie durfte keine Entscheidungen treffen, keine Briefe ohne Kontrolle schreiben, keine Kleider selbst aussuchen – man behandelte sie wie ein Kind. Warum also sollte sie sich nun benehmen wie eine Erwachsene?
Ein böser, kleiner Gedanke drängte sie auf und ließ sie langsamer gehen: Lass sie doch aufschrecken. Lass sie dich suchen müssen.
Die Glocke läutete erneut. Einmal. Dann zweimal. Dann schneller. Ein dringlicher Klang, der nicht mehr zum geschäftigen Treiben des Hafens passte, sondern etwas Endgültiges hatte.
Philippas Herz schlug schneller.
Was, wenn das Schiff ohne sie ablegte?
Was, wenn Miss Hewish tatsächlich nicht zurückkäme? Was, wenn man sie einfach hier ließ – ganz allein – mit keinem Pence in der Tasche und der Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf, die fragte: Was hast du getan, Philippa? Was hast du nur wieder getan?
Die Glocke am Kai läutete weiter –ungeduldig, zornig. Philippas Herz hämmerte mit ihr, während sie sich dazu Zwang sich dem Pier ganz langsam zu nähern. Sie erwartete, Miss Hewish dort zu sehen – vor der Gangway, wie es sich gehörte. Mit der Liste in der Hand, mit gerecktem Kinn, bereit, ihre Zurechtweisung auszuteilen.
Aber da war niemand.
Kein grauer Mantel, kein geordnetes Haar, keine schmale Silhouette. Nur ein Matrose mit zerfranstem Hemd und wettergegerbtem Gesicht, der an der Glocke zog, als gelte es, die Hölle zu wecken. Er sah sie nicht an, reckte seinen Kopf in die Höhe, als wartete auf jemanden bestimmtes. Keiner achtete auf sie, als sie auf die Planke trat.
Philippa hielt inne. Der Wind zerrte an ihrem Mantel. Das Schiff schwankte sanft an der Planke. Es war kein vornehmes Schiff – zu rau die Seile, zu schartig das Holz, zu viel Männerlärm. Matrosen riefen letzte Befehle, Kisten wurden festgezurrt.
Sie hat mich nicht mal erwartet, dachte Philippa und ihre Wut stieg erneut. Das ist so unverschämt. So demütigend.
Es war nicht das erste Mal, dass man so mit ihr umging. Seit Jahren wurde ihr gesagt, was sie zu tun, zu lassen, zu denken hatte. Und seit wenigen Tagen wusste sie nun auch, wen sie bald zu heiraten hatte. Ihre Mutter hatte es als lapidare Bemerkung zwischen dem Nachmittagstee und dem Diner fallen lassen, ohne ihr dabei ins Gesicht zu sehen: »Du wirst deinen Cousin John heiraten. Er ist zuverlässig.«
Philippa holte tief Luft, richtete sich auf und überquerte die Planke. Der Matrose schaute durch sie hindurch und läutete weiter wütend seine Glocke. Na schön, dachte sie. Dann gehe ich eben allein. Wenn Miss Hewish es für angemessen hielt, eine junge Dame allein auf ein Schiff zu schicken, dann sollte sie auch mit den Konsequenzen leben.
Oben an Deck blieb sie stehen. Die Männer arbeiteten weiter, warfen Taue, fluchten, zogen. Einer starrte sie an. Ein anderer sagte etwas zu seinem Nachbarn, und beide lachten kurz. Philippa tat, als hörte sie nichts. Zögerlich trat sie weiter. Ihr Blick tastete das Deck ab – kein Damenhut, kein grauer Umhang, kein Zeichen von Miss Hewish.
Sie ist schon unter Deck gegangen, sagte sich Philippa. Natürlich. Sie ist sich zu fein für das Ordinäre. Oder zu beleidigt, weil ich widersprochen habe.
Philippa zog ihren Mantel fester um sich, senkte den Blick und ging zur nächstbesten Treppe. Sie musste sich sammeln, das alles war ihr zu viel. Der Tag hatte mit einem Streit begonnen, war über Trotz in ein Debakel gekippt, und jetzt fühlte sie sich – schon wieder – wie ein kleines Kind. Dabei war sie einundzwanzig. Volljährig. Keine Idiotin.
Mit einem entschlossenen Schritt setzte sie den Fuß auf die Treppe nach unten – hinab ins Zwielicht, in den muffigen Bauch des Schiffes.
Die Treppe knarrte. Und zwar auf eine Weise, die selbst Philippa, obwohl keine Schiffsexpertin, beunruhigend alt vorkam. Auch der Geruch, der ihr entgegenwehte, war nicht gerade verheißungsvoll: eine Mischung aus altem Tauwerk, nassem Holz, Öl und – war das… Kohl?
Fein. Sie hielt kurz inne, sah sich um und rümpfte dann doch die Nase. Das Schiff wirkte… betagt. Höflich gesagt. Was ist das für eine traurige Nussschale?
Philippa erinnerte sich gut an die Überfahrten vergangener Jahre – nicht luxuriös, gewiss, aber doch anständig. Mit sauberem Deck, ordentlichem Porzellan in der Kombüse und einem Kapitän, der gelegentlich sogar die Damen grüßte. Dieses hier dagegen… war kaum mehr als ein schwimmendes Lagerhaus mit Masthut.
Bestimmt war es billiger, dachte sie säuerlich. So billig, dass Miss Hewish beim Bezahlen vermutlich leise gequiekt hat vor Glück.
Und dann – ein Gedanke wie ein Sonnenstrahl durch Sturmwolken: Wenn ich verheiratet bin… dann brauche ich Miss Hewish nicht mehr.
Sie konnte ihr dann einfach kündigen. Höflich, mit einem Abschiedsbonbon vielleicht. Und dann würde sie reisen, richtig reisen. Mit Kissen. Und Seife. Und Schiffen, die nicht nach gekochtem Kohl und nassen Strümpfen rochen. Das Geld würde sie dafür haben, ihre Mitgift war beträchtlich. Vielleicht tat ihre Mutter ihr damit einen großen Gefallen, indem sie sie endlich verheiratete.
Diese Vorstellung war für Philippa so erhebend, dass sie beschwingt den Gang entlangging. Sie hielt Ausschau nach den Kabinen. Eine Tür stand offen – ein schmaler Raum mit Haken an der Wand. Eine andere Tür führte in eine Kammer mit einem leeren Fass, zwei nassen Socken und einem Topf, den sie nicht näher inspizieren wollte. Die dritte Tür ließ sich nicht öffnen, vermutlich war da jemand drin.
Dann endlich – eine Tür, angelehnt, aus der es nicht roch, keine Socken, keine Geräusche. Innen: ein Bett, eine Truhe, zwei Koffer. Sauber. Sogar ordentlich. Ein Hauch von Lavendel.
Sie trat ein. Endlich.
Zwei Koffer. Miss Hewishs Koffer. Diese ewig schartigen, dunkelgrünen, an den Ecken mit Metall verstärkten Dinger, die schon mindestens zehn Jahre alle Reisen überlebt hatten – mit Miss Hewishs eiserner Fürsorge.
Philippa seufzte. Kein Miss Hewish weit und breit, was sie ehrlicherweise erleichterte. Sie klappte das Bett von der Wand herunter und setzte sich darauf. Sie verschränkte die Arme und starrte auf die Koffer. Ich warte jetzt einfach. Ich renne ihr nicht hinterher. Sie wird schon kommen. Und wenn nicht – umso besser. Sie ließ sich langsam zurücksinken, bis sie halb auf dem Bett lag und die Decke über sich anstarrte. Das Holz über ihr war rissig, aber irgendwie… beruhigend.
Ich bin auf dem Schiff. Ich habe es geschafft. Sie wird schon kommen. Und dann tue ich ganz überrascht, dass sie nicht da war.
Sie schloss die Augen für einen Moment. Nur kurz. Nur bis sie kam. Nur, um ein bisschen die Welt auszublenden.
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