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Kapitel V-VII

  • Autorenbild: Leah Hasjak
    Leah Hasjak
  • 21. Sept.
  • 39 Min. Lesezeit

Müde zog er den Brief aus seiner Weste und brach den Schmucklosen Siegel auf. Nathalien hatte mit dem Üblichen gerechnet – endlose Befehle, verschlüsselte Anweisungen, Aufgaben, die ihn seit Jahren an den Rand des Möglichen hin zum Unmöglichen trieben. Doch diesmal war es anders. Auf dem Papier standen nur zwei Namen.

 

Assad al-LayyThomas Cooper

 

Nathalien starrte auf die Schrift, als müsse er sich verlesen haben. Assad al-Layy. Ein Name, der nach Wüste und fernen Küsten klang. Ein Araber. Ohne Zweifel. Und darunter Thomas Cooper – ein gewöhnlicher englischer Name, nichtssagend, beliebig. Keine Hinweise, keine Orte, keine Erklärung. Nur diese beiden Namen.

Er presste die Lippen zusammen. Was sollte er damit anfangen? Soll er sie finden? Töten? Befragen? War es eine Spur oder ein Rätsel? Er hatte keine Antworten. Nur diese beiden Namen, die wie Hohn auf dem Blatt standen.

Ein kurzes, bitteres Lachen entfuhr ihm. »Ein Araber und ein Engländer. Und ich soll raten, was Ihr mit denen wollt, oder wie?«

Er knüllte das Blatt, glättete es wieder und stopfte es in seine Weste. Der Ärger nagte an ihm, doch mehr ließ sich im Moment nicht tun.

 

 

Philippa hatte währenddessen einen Morgen, der ihr unerträglicher erschien als jeder Traum. Der widerwärtige Geruch aus dem Hühnerstall klebte ihr in der Nase – fauliger Dunst aus Federn, Dreck und Ammoniak, der sie seit dem Morgengrauen würgen ließ. Ihr Magen war leer, dennoch drehte er sich, als hätte sie etwas Verdorbenes verschluckt. Jede Bewegung in dieser stickigen Kombüse machte es schlimmer. Die Luft war dick von Rauch und altem Fett, und es gab kein Entkommen.

Bill stellte ihr eine Pfanne hin, in der er einen Klumpen Gänseschmalz schmelzen ließ. Das Fett blubberte und spuckte. »Na, nicht träumen, Prinzessin, schlagt die Eier rein«, murrte er, ohne sie anzusehen. Von seiner gestrigen Zugewandtheit war nichts mehr verbliebe, sie musste einer beständigen Grimmigkeit und Erschöpfung gewichen sein, die dieses Schiff ausstrahlte.

Philippa tat wie geheißen. Ihre Finger zitterten, als sie die Schalen aufbrach, der Inhalt landete mit weißen Stückchen darin. Schon beim ersten Ei schlug ihr ein widerlicher Schwefelgestank entgegen, der so scharf war, dass ihr die Tränen kamen. Sie würgte, doch es war ihr gleich. Wer immer das aß, sollte selbst sehen, wie sein Magen das vertrug. Sie rührte stumpf mit dem Holzlöffel, sah zu, wie das Eiweiß sich kräuselte und bräunliche Ränder bekam. Bill hantierte neben ihr.

Da öffnete sich die Tür. Mr. Ashcroft trat ein, mit mürrischen Gesicht, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und ließ den Blick langsam durch die Kombüse gleiten. Sein Blick blieb auf der Pfanne. Ein Anflug von Zufriedenheit huschte über sein Gesicht, als er die Eier sah.

»In zwei Stunden laufen wir Île d’Yeu an«, sagte er. »Ein französischer Hafen. Es wäre klug, wenn Ihr nicht auf die Idee kommt, das Schiff zu verlassen. Glaubt mir, für Euch wäre das unklug. Kein Volk ist misstrauischer als der Franzose. Er wittert überall Spione.«

Als er das sagte, blickte er Philippa mit solchen Nachdruck an, als ginge er ernsthaft davon aus, sie wäre eine englische Spionin.

Philippa presste davon sichtlich verärgert und irritiert die Lippen zusammen. Der Schmalzgeruch stieg ihr in die Nase, ließ sie benommen werden. Fragen brannten ihr auf der Zunge – über diesen Hafen, über ihre Freiheit, über seine Drohung –, doch er wartete nicht auf eine Antwort. Mit einer beiläufigen Bewegung griff er nach einem Stück hartem Brot, das Bill in das Fett getaucht hatte und biss genüsslich hinein, als sei es eine Delikatesse.

Ohne ein weiteres Wort verließ er die Kombüse. Die Tür fiel ins Schloss. Philippa stand da, die Finger fettig, das Kleid vom Rauch durchzogen, und der Gestank war so unerträglich, dass sie kaum atmen konnte. Während sie seine Schritte im Gang hörte, beschloss sie eines mit aller Klarheit und aus Mangel an ernsthaften Alternativen, dieses Schiff zu verlassen.

Was sollte ihr schon passieren? Sie konnte Französisch, sie war eine harmlose, junge Frau und Krieg hin oder her, die Franzosen waren Christenmenschen und somit von sich aus gut.

Und alles, wirklich alles, war besser als dieses Schiff. Wenn es sein musste, würde sie springen und zum Hafen schwimmen. Dieser Gedanke allein gab ihr einen Funken Hoffnung.

Während Bill das restliche Fett schabte, begann er mit unbewegter Stimme von einem Cousin zu erzählen, der über zehn Jahre an einer Krankheit gelitten hatte.

»Der ganze Kopf ist ihm angeschwollen, so groß wie ein zweiter …«, meinte er, als rede er über das Wetter. Philippa starrte auf die Pfanne, in der das Schmalz nun qualmte und die Eier dunkel wurden. Sie hörte kaum zu. Der Gestank von verbranntem Fett und fauligem Ei war stärker als jedes Wort.


 

 

 

 

 

 

KAPITEL VI

Die Insel der Nebel

 

Die Celandine glitt langsam in den Hafen ein. Die Masten knarrten, das Wasser schmatzte gegen den Rumpf, während vom Kai her Signale gegeben wurden, die das Anlegemanöver lenkten. Der Hafen war voller Geräusche: das Knarzen von Winden, Rufe von Fischern, das Schlagen von Hämmern auf Metall. Zwischen Stapeln von Fässern, Seilen und Ballen drängten sich Händler und Seeleute, der Geruch von Salz, Teer und fauligem Tang lag in der Luft.

Ein uniformierter Schreiber kam an Bord, verlangte nach den Papieren und musterte dabei jeden einzelnen Mann, sein Blick glitt prüfend über die Gesichter. Nathalien reichte ihm die niederländischen Dokumente und sprach dabei fließend Französisch mit ihm. Der Mann runzelte die Stirn, ließ sich Zeit, studierte jedes Wort – bis Nathalien ihm beiläufig drei Pfund in die Hand drückte. Das genügte. Der Stempel krachte aufs Papier, das Schiff wurde als niederländisch eingetragen, und die Männer durften von Bord.

Nathalien verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Vielleicht lag es am widerlichen Frühstück, vielleicht an der drängenden Frage, wie er die Vorräte und die schwindende Mannschaft ersetzen sollte. Er brauchte Leute, dringend. Neunzehn Mann reichten nicht für die Karibik. In letzter Zeit starben ihm die Leute zu schnell weg, auch das musste er berücksichtigen. Die Mannschaft war alt und müde.

Er überschlug den Wert der Ladung, die im Bauch des Schiffes lag: Ballen von Seide, grob gewebt, kaum etwas wert. Ein paar Säcke mit Gewürzen, die längst ihren Duft verloren hatten. Dazu Kisten mit einfachen Metallwerkzeugen – Hämmer, Nägel, Messer –, nichts, womit man reich wurde, aber immerhin bewegliche Ware, die sich schnell losschlagen ließ. Wertvoll genug, um den Schein eines Handels zu wahren, aber kein Schatz.

Er machte sich auf den Weg zum Hafenmeister, um die Ladung anzumelden. Auf dem Weg dorthin drängte sich eine gesichtslose Menge an ihm vorbei: Matrosen mit Netzen über der Schulter, Schreiber mit Tintenfässern am Gürtel, französische Offiziere, die jeden Neuankömmling misstrauisch musterten. Zwischen ihnen bahnte er sich den Weg, die Hand immer nah am Mantel.

Sein Blick fiel auf einen gedrungenen Franzosen, der vor einem Anschlagbrett stand und mit den Händen voller Papiere versuchte, die Listen zu entziffern. Seine Unbescholtenheit und Unerfahrenheit strahlte ihm über Meter hinweg entgegen. Nathalien trat dicht neben ihn, als müsse er selbst einen Blick darauf werfen, und ließ seine Schulter den Mann sacht streifen. Der Franzose wich einen halben Schritt zurück, murmelte ein »pardon«, woraufhin Nathalien mit einem knappen Abwinken reagierte, als sei die Sache nicht der Rede wert. Im selben Augenblick glitten seine Finger in die Tasche des Mannes. Sofort spürte er ein kleines Säckchen, schwer vom Klang der Münzen. Ein Griff, ein Zug, und schon war es in seiner Hand. Er schob es zwischen die Falten seiner Jacke, neigte den Kopf, als prüfe er weiter die Liste am Brett, und ging dann mit einem selbstverständlichen Schritt weiter, als sei nichts geschehen.

Ein paar Schritte weiter streifte er an einem angetrunkenen Matrosen vorbei, der mit offenem Gürtel und halb aus der Tasche hängender Börse durch die Menge drängte. Ein kurzer Griff genügte, die Börse verschwand in seinem Mantel, während der Mann fluchend einem Karren auswich, ohne etwas zu merken.

Nathalien hielt den Kopf gesenkt, seinen Dreispitz tief ins Gesicht gezogen, und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Das chaotische Treiben des Hafens verschluckte jeden Verdacht. Kein Blick verfolgte ihn. Kein Ruf ertönte.

 

 

Philippa brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass sie den Hafen erreicht hatten. Niemand hatte es ihr gesagt, Bill war verschwunden, und sie hatte stumm in der Kombüse ausgeharrt, während das Schiff gemächlich hin und her schaukelte. Und sie mit ihm, aus Gewohnheit. Erst das ungewohnte Schweigen und die plötzliche Leere ließen sie aufhorchen. Vorsichtig schob sie die Tür auf und trat auf das Deck hinaus.

Die Planken lagen verlassen, ein betrunkener Matrosen hasteten an ihr vorbei, einen vollen Sack auf den Schultern, zu beschäftigt, um sie auch nur anzusehen. Niemand hielt sie auf. Niemand fragte. Philippa stellte sich an die Reling, tat so, als würde sie nach frischer Luft schnappen, und näherte sich Schritt für Schritt der schmalen Planke, die vom Schiff zum Kai führte.

Ihr Herz raste, doch man schenkte ihr weiterhin keine Beachtung. Dann setzte sie den Fuß auf das Holz, ging hinüber, und plötzlich war sie mittendrin. Stimmen, Sprachen aus aller Welt – Spanisch, Italienisch, Französisch, Russisch, das Geschrei von Händlern und Hafenarbeitern. Der Geruch nach Salz, Fisch und Rauch mischte sich mit fremden Gewürzen. Es war wie in den Häfen, die sie von Reisen mit Miss Hewish kannte – nur jetzt stand sie allein dazwischen.

Eine ungeheure Erleichterung ergriff sie. Sie war frei, fort von diesem verfluchten Schiff, von Bill und seinen Krankheiten, von Mr. Ashcroft, von Schmalz und Dreck und Ratten. Tief atmete sie ein, sog die Luft des Hafens ein, die ihr reiner erschien als alles, was sie seit Tagen gerochen hatte. Ihr war, als könne sie kaum glauben, dass es wirklich geschehen war.

Doch mit der Freiheit kam eine bittere Erkenntnis: Sie hatte keinen einzigen Pence bei sich. Kein Geld, zwei Schmuckstücke ihrer Familie, die sie eng unter dem Kleid bei sich trug – wertvoll, aber unverkäuflich. Sie konnte den edelsteinbesetzen Rosenkrank und die Perlenkette ihrer Großmutter nicht aus der Hand geben. Unmöglich. Sie würde auf die Güte anderer hoffen müssen.

Und so formte sich ihr erster Plan: eine Kirche oder gleich ein Kloster aufsuchen. Christmenschen helfen einander, davon war sie überzeugt. Wenn sie nur ein Gotteshaus fand, wäre sie gerettet, denn da würde man sie nicht abweisen.

Entschlossen setzte sie sich in Bewegung, schob sich zwischen Matrosen und Händler, die sie kaum beachteten. Ihre Schritte beschleunigten sich, als fürchte sie, jemand könne sie zurückrufen. Doch niemand kam. Mit jedem Atemzug, mit jedem Schritt weg vom Schiff fühlte sie sich leichter, freier. Während sie die schmalen Gassen hinter dem Hafen ansteuerte, suchte ihr Blick bereits nach einem Kirchturm, nach einem Kreuz, das ihr den Weg wies.

 

 

Am späten Nachmittag harrte Nathalien ungeduldig auf dem Deck neben der Celandine aus. Seine Männer waren damit beschäftigt, Ballen und Kisten vom Schiff heranzuschaffen, während der Händler – ein schmaler, verschlagener Italiener mit spitzem Bart – die Ware prüfend befühlte. Nathalien beobachtete besorgt mit verschränkten Armen, wie die Ware sich vor ihnen türmte. Er wusste, dass er viel zu wenig Geld für all das bekommen würde. Vielleicht ein Drittel dessen, was er brauchte, wenn es hochkam.

Er spielte gedankenverloren mit den Geldbeuteln, die er in der Jacke verborgen hielt – Beute aus kleinen Raubzügen auf dem Weg hierher. Damit würde er den Rest finanzieren müssen. Brot, getrocknetes Fleisch, Fässer mit Wasser, mit etwas Glück ein paar Säcke Bohnen, drei bis vier Hühner. Während er die Liste der Vorräte im Kopf durchging, kam Jimmie zu ihm geschlichen, frische Pastete in der Hand. Er stellte sich neben Nathalien, kaute und erzählte ihm beiläufig:

Er habe gesehen, wie die Frau sich vom Schiff geschlichen habe. Nathalien nickte nur knapp. Wie erwartet, war ihre Begriffsstutzigkeit nicht gespielt. Die hellste war sie nicht. Doch es lag nicht an ihm, sie vor ihrer eignen Dummheit zu bewahren. Ein Teil von ihm war sogar erleichtert über ihr Verschwinden. Sollte sie ihr Glück versuchen – sie sprach Französisch, sie konnte sich durchschlagen. Besser, sie war fort, als eine zusätzliche Last. Dennoch nagte ein Rest Misstrauen in ihm. Sie war eine schlechte Spionin, gewiss, aber immerhin jemand, der herausgefunden haben musste, wer er wirklich war und noch wichtiger, weshalb er am Bord der Celandine war. Möglicherweise war sie auf dem Weg zurück nach England, um ihm aus der Ferne das Leben schwer zu machen.

»Diese Seide«, nörgelte der Händler und zupfte an einem Ballen, »ist von schlechter Qualität. Dafür zahle ich nichts.«

»Unsinn«, entgegnete Nathalien. »Sie ist zwar grob gewebt, aber tragfähig. In den Dörfern zahlt man Euch gutes Geld dafür.«

»Ein Drittel, mehr nicht.«

»Zwei Drittel«, warf Nathalien zurück.

Der Händler sah ihn kampflustig an und spuckte zur Seite. »Hälfte. Kein Pence mehr, cane inglese

Englischer Hund.

Nathalien stöhnte innerlich auf. Der Mann hatte sie natürlich durchschaut. Keiner von ihnen war Holländer, und noch weniger waren sie Franzosen. Er wusste sehr wohl, dass sie darauf angewiesen waren, ihre Ware loszuwerden und diesen Hafen schnell zu verlassen. Und das nutzte er für sich.

»Abgemacht.«

Er wusste, er war über den Tisch gezogen worden. Aber er konnte nicht länger feilschen. Mit zusammengepressten Lippen sah er zu, wie der Mann zufrieden das Silber abzählte und ihm dann mit einem zufriedenen Grinsen überreichte. Viel zu wenig, um die Reise zu finanzieren. Heute Nacht musste er an den Spieltischen sein Glück versuchen.

Nathalien war kein schlechter Spieler – seine Stärke lag im Bluff, darin, andere glauben zu machen, er halte bessere Karten, als er tatsächlich hatte. Aber er wusste auch: dafür musste er nüchtern bleiben. Keine Ration Rum, kein Wein. Nur ein klarer Kopf konnte ihm das Glück verschaffen, das er jetzt brauchte.

Während er den Beutel mit dem Silber einsteckte, ging er die Liste seiner Aufgaben im Kopf durch: Vorräte kaufen, Mannschaft verstärken, die Namen Assad al-Layy und Thomas Cooper im Gedächtnis behalten. Er würde sich unauffällig umhören, in Tavernen und am Kai, ob jemand die Namen kannte, vielleicht als Schiffsleute, vielleicht als Händler oder Gesuchte. Gleichzeitig musste er Ausschau halten nach Männern, die stark genug für die Reise und verzweifelt genug waren, um sich von ihm anzuheuern zu lassen.

Morgen früh würden sie auslaufen.

Auf dem Deck der Celandine regte sich etwas. Nathalien entdeckte Wexford aus der Ferne – wie er sich aus dem Schatten des Deckshaus schälte, blinzelte und dann mit einem kehligem Rülpser Richtung Planke trottete. Seine Schritte waren unsicher, der Blick verquollen, und als er am Schiffsrand entlangwankte, schien er verwundert, dass niemand auf ihn wartete.

Er murmelte etwas, das wie eine Beschwerde klang – irgendwas über Disziplin und das Verschwinden der Mannschaft – hob schwankend eine Hand zum Gruß an die Welt und setzte zum Abstieg über die schmale Planke an. Nur trat er eben nicht auf die Planke, sondern daneben.

Mit einem lauten Platschen landete der Kapitän im Hafenbecken. Einen Moment lang herrschte Stille, dann lachte der italienische Händler, ehe er mit seinen Leuten, der Ware und einem letzten überheblichen Blick davon zog. Hafenarbeiter ließen ihre Arbeit ruhen, um der willkommen Ablenkung nachzugehen. Es folgte Johlen und Pfeifen.:

»Der Kaptein kann schwimmen«, kommentierte Jimmie, der seine Pastete aufgefuttert hatte und sich die fettigen Finger auf dem Hemd abwischte.

Nathalien hatte den Sturz beobachtet, ohne sich zu rühren. Vielleicht würde jemand anderes sich erbarmen, Wexford aus dem Wasser zu ziehen – irgendwer, so hoffte er.

Niemand bewegte sich. Niemand half. Wexford zappelte im Wasser, fluchte, prustete und versuchte, gleichzeitig zu rudern und sich selbst zu verfluchen.

»Der kann schwimmen«, wiederholte Jimmie unbesorgt. Sein Vertrauen in den alten Säufer war unerschütterlich. Und aus keinem anderen Grund, sah sich Nathalien gezwungen, dieses besoffenen unnützen Stück Sack aus dem Wasser zu fischen. Man mochte es nicht glauben, aber Wexford hielt die Mannschaft zusammen.

Nathalien knirschte mit den Zähnen.

Verdammt.

Sie brauchten diesen Kerl.

Er trat zwei Schritte zurück, zog sich die Jacke aus, sprang. Das Wasser war kalt und roch nach totem Fisch und altem Öl. Der Kapitän ruderte wild mit den Armen, rief: »Hände weg! Ich kann selbst!«, während er unterging. Nathalien tauchte unter, packte ihn unter den Armen, bekam einen Ellenbogen gegen die Schulter, schimpfte, fluchte, kämpfte. Jemand an Deck warf ein Seil.

»Haltet still!«, rief er, halb zu sich selbst, halb zum Kapitän, der weiter wie ein aufgeweichter Aal strampelte. Endlich bekam er das Seil zu fassen, schlang es um den massigen Körper, das Fluchen und Sprudeln kein bisschen weniger geworden.

»Zieht!«, schrie er.

Nach einem Moment reagierten ein paar Männer. Zögerlich erst, dann mit Gelächter. Der Kapitän wurde nach oben gehievt, spuckte Wasser, schrie Obszönitäten, nannte Nathalien eine Reihe von Dingen, die selbst für einen heruntergekommen wie diesen Hafen neu waren.

Nathalien zog sich aus eigener Kraft am Kai hoch. Klatschnass, die Stiefel schmatzten bei jedem Schritt, seine Haare klebten ihm im Gesicht. Der Kapitän stand inzwischen auf den Beinen, schwankte, lachte gackernd und klopfte einem Zuschauer auf die Schulter, als hätte er gerade einen Tanz aufgeführt. Seine Mütze – erstaunlicherweise nie losgelassen – wrang er aus und setzte sie sich mit triumphierendem Grinsen wieder auf den Kopf.

Ohne ein weiteres Wort wankte er Richtung Spelunke.

Nathalien blieb ohne dank zurück, nass, erschöpft, verärgert. Ein Franzose neben ihm grinste. »La bête aurait mieux fait de rester dans l’eau.«

 

 

Erleichtert atmete Philippa auf, als sie die beiden Türme einer Kirche erblickte. Ihre Beine fühlten sich schwer an, der Magen leer, aber die Türme gaben ihr Hoffnung. Hier, in eoinem Gotteshaus, musste Hilfe zu finden sein, davon war sie überzeugt.

Sie schob sich durch das Gedränge der Straße, vorbei an Ständen mit gegrillten Fischen, deren Fett zischend zwischen Kohlen tropfte. Der Rauch brannte in der Nase, und ihr Magen knurrte laut, als der Geruch von frisch gebackenem Brot und Knoblauch sie erreichte. Die Menschen rempelten sie an, Händler riefen ihre Preise, verwahrloste Kinder liefen zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch. Philippa wusste, dass sie, wie dieser Hafen, ebenfalls nach Rauch und Kohl stank, dass ihr Kleid verschmutzt war, doch sie hielt sich daran fest, dass jeder, der genau hinsah, den Schnitt und den feinen Stoff erkennen musste. Es war immer noch das Kleid einer Dame, nicht das einer Bettlerin. Und so würde man ihr auch begegnen, wie einer Dame.

Vor der großen Pforte blieb sie stehen. Das dunkle Holz wirkte schwer, die eisernen Beschläge alt und unnachgiebig. Sie drückte dagegen – nichts. Sie klopfte zaghaft, dann etwas stärker, doch niemand öffnete. Ein Frösteln kroch ihr über den Rücken. Warum war der Haupteingang einer Kirche verschlossen? Gerade hier, mitten in der Stadt, wo die Not der Elenden und Hilfesuchenden am größten war? Sie trat zurück, sah zu den Türmen auf, als könnten diese eine Antwort geben. Dann fasste sie den Mantel enger und ging den Weg seitlich entlang. Der Putz bröckelte an manchen Stellen, in den Ritzen wuchs Moos. Schließlich fand sie eine kleine Nebentür, angelehnt, unscheinbar. Sie zögerte nur einen Moment, legte die Hand auf das Holz und trat ein.

Im Inneren schlug ihr die Stille entgegen. Es war kühl, die Luft roch nach Stein, Kerzenwachs und alten Tüchern. Ihre Schritte hallten auf den Steinplatten wider. Die bunten Glasfenster warfen matte Lichtflecken auf den Boden. Zwei Nonnen waren im Seitenschiff auszumachen. Eine saß still, die Hände gefaltet, die andere erhob sich, sobald sie die Schritte vernahm. Sie war älter, ihre Haltung unnatürlich gerade, der Blick streng.

Philippa blieb unsicher stehen. Für einen Augenblick wollte sie erleichtert die Hände heben und um Hilfe bitten, doch der Ausdruck im Gesicht der Frau ließ sie zögern. Keine Spur von Wärme. Nur ein prüfendes, hartes Mustern. Als sie sprach, klang ihre Stimme streng und fest, auf Französisch:

»Que désirez-vous, mademoiselle?« Was wollt Ihr, Fräulein?

Philippa erschrak über den Tonfall. Instinktiv brach es aus ihr heraus, in ihrer englischen Muttersprache: »Ich habe ein schreckliches Unglück erlitten, werte Schwester, und bin in schrecklicher Not. Bitte helft mir.«

Die Nonne runzelte die Stirn, ihre Augen verengten sich. Philippa bemerkte ihren Fehler und wechselte hastig ins Französische, bemüht um Fassung:

»J'ai subi un terrible malheur, chère sœur, et je suis dans une terrible détresse. S'il vous plaît, aidez-moi.«

Dass man nun wusste, dass sie keine Französin war, war ihr in diesem Augenblick gleichgültig. Philippa sah nur den kühlen Blick der Nonne, das Abwägen, das keinerlei Mitleid verriet. Philippa hob das Kinn, obwohl ihr Herz schneller schlug. Sie war überzeugt, dass Gottes Haus ihr Zuflucht geben musste.

Die Nonne hob die Brauen, ihre Stimme blieb scharf: »Il y a des endroits dehors où l’on peut mendier. Pas ici. Vous ne devez pas entrer.« Ihr abschätziger Blick glitt über Philippas Kleid, als sei sie nicht mehr als eine gewöhnliche Bettlerin.

Philippas Gesicht brannte. »Non, non! Je ne suis pas une mendiante! Je suis une dame de qualité, et je peux le prouver!«

»Et comment?« Die Nonne verschränkte die Arme.

Philippa holte tief Luft, ihre Worte überschlugen sich. Sie sprach von alten Verbindungen zwischen Frankreich und England, erwähnte Marguerite von Valois und ihre Verwandtschaftsgrade zu den Plantagenets, als hätte sie ganze Stammbäume im Kopf. Dann betonte sie plötzlich ihre deutschen Wurzeln, erzählte, dass ihre Großmutter aus Hessen stammte und dass sie von Kindheit an deutsche Lieder gelernt habe – eine kleine Finte, um den Verdacht, sie sei eine Engländerin, zu zerstreuen. Anschließend lenkte sie auf Kunst über, sprach von der feinen Linienführung in französischen Tapisserien des 14. Jahrhunderts und davon, wie sie in Bath ähnliche Stücke gesehen hatte. Ihre Stimme vibrierte vor Eifer, bis sie schließlich verstummte.

Die Nonne blinzelte irritiert, dann hob sie beschwichtigend eine Hand. »Assez. C’est bon. Ich verstehe, Sie sind keine Bettlerin.« Ihr Ton änderte sich, sie wechselte nun ins Deutsche, langsam, damit Philippa jedes Wort begriff: »Woher kommen Sie?«

Philippa stockte. »Das … kann ich nicht sagen.«

Die Nonne neigte den Kopf. »Nicht sagen – weil Sie vielleicht von Ihrem Elternhaus geflohen sind?«

Philippa schüttelte heftig den Kopf. »Nein! So ist es nicht. Man könnte es so deuten, ja … aber ich bin nicht geflohen. Ich wurde entführt.«

Die Nonne nickte langsam, mit einem wissenden Ausdruck. Dann veränderte sich ihre Haltung. Die Strenge wich einem sanften Ernst. »Kommt her, liebes Kind. In diesem Fall werden wir euch helfen.«

Die zweite Nonne, die bislang in der Ferne gesessen hatte, trat nun ebenfalls heran. Die beiden Frauen tauschten einen langen, stillen Blick. Philippa fühlte sich leichter, beinahe gerettet. Endlich glaubte man ihr. Endlich wollte jemand ihr helfen. Der Gedanke an eine Rückkehr nach Hause ließ sie erleichtert lächeln – und in ihrem Herzen glomm die Vorstellung auf, Miss Hewish zur Rede zu stellen, sobald sie zurückkehrte.

Philippa war inzwischen fest davon überzeugt, dass genau dieser Zwist sie in diese schreckliche Lage gebracht hatte – dass all das Unheil, das sie nun durchlitt, auf jenen banalen, aber erbitterten Disput und die Sturheit ihrer Gouvernante zurückzuführen war. Ein leiser Zorn ließ ihr Herz noch einmal schneller schlagen, während sie der Nonne folgte, getrieben von dem Gefühl, dass ein Teil ihrer Not hätte verhindert werden können.

 

Zur gleichen Zeit hatte Natalien, in trockener Kleidung und nassen Haar, die Hafengassen hinter sich gelassen und war in einer der großen Spelunken gelandet, wo es stets laut zuging und in den Hinterzimmern Karten gespielt wurden. Der Geruch nach Bier, Schweiß und Rauch hing schwer in der Luft. Er bestellte sich gegen seinen Vorsatz keinen harten Rum, sondern ließ sich nur ein Glas verdünnten Kompotts mit etwas Wein bringen – kaum der Rede wert. Während er trank, tastete er unauffällig die kleinen Säckchen in seiner Weste ab, die er heute in Umlauf bringen wollte.

Am Nebentisch wurde bereits gespielt: Pharao, ein beliebtes Glücksspiel mit Einsatz auf eine aufgedeckte Karte; Lansquenet, schnell, laut, mit stetigem Geldwechsel; Basset, gefährlich wegen hoher Einsätze; und einfache Würfelspiele, die nie aus der Mode kamen. Natalien beobachtete die Männer am Basset-Tisch genau. Zwei waren schon so betrunken, dass sie die Karten nur ungeschickt hielten, der dritte schwitzte vor Anstrengung und strauchelte damit, seine Münzen festzuhalten.

Er wartete, bis sie sich zurücklehnten, lachten und den Krug hoben. Dann trat er näher, verbeugte sich leicht und fragte auf Französisch:

»Messieurs, habt ihr noch Platz für einen weiteren Spieler?«

Die Männer lachten schief. Einer nuschelte: »Es ist immer Platz für jemanden, der sein Geld liebend gern loswerden möchte.« Sie deuteten auf den freien Stuhl.

Natalien setzte sich, bestellte sich einen weiteren Kompott mit Wein und legte ruhig eines der Säckchen auf den Tisch. Es war prall gefüllt, darin klirrten Münzen. »Das sollte reichen für die ersten Runden.«

Die Karten wurden gemischt, das Holz knarrte, die Münzen klirrten. Um sie herum wurde es lauter. In der Schenke sang jemand ein Seemannslied, ein anderer grölte die letzte Strophe falsch mit. Gelächter, Geschirrgeklapper, das Poltern von Stühlen. Die Stimmung stieg, während Natalien sich zurücklehnte, den ersten Blick auf seine Karten warf. Heute, so hoffte er, würde er mehr gewinnen als verlieren und seine Probleme mit Geld lösen.

Und tatsächlich lief es gut. Zwei Runden brachten ihm kleine Gewinne, die Münzen häuften sich vor ihm. Allerdings benötigte er mehr – viel mehr. Mindestens zehn, besser fünfzehn gesunde, junge Männer wollte er anwerben. Dazu Proviant, Waffen, und vor allem Waren, die er in der Karibik eintauschen konnte, um eine offizielle Ladung vorzutäuschen.

Er überlegte Cádiz anzusegeln – der spanische Hafen, berühmt für seinen regen Handel, wo man alles bekam: Stoffe, Zucker, Tabak, Wein. Von dort aus konnte die Celandine Kurs auf Übersee nehmen, ohne Verdacht zu erregen. Doch das eigentliche Problem blieb bestehen: sich als ehrbares Handelsschiff auszugeben, während man in Wahrheit nichts weiter ein Schmugglerkahn war, dem man das nicht nur Ansah, sondern es auch roch. Seine Auftrag ließ es nicht zu aufzufallen, gleichzeitig musste er eine Mannschaft bei Laune halten, die lieber einen Coup nach dem anderen drehen wollte, und sich dabei weder geschickt noch jung anstellte.

Ein lauter Streit am Nachbartisch riss ihn aus seinen Gedanken. Zwei Männer fluchten, schubsten sich. Natalien erkannte sie sofort – alte Matrosen von der Celandine, die vor seiner Zeit im Streit mit dem Kapitän gegangen waren. Er hatte ihre Namen schon gehört: Henri Delacroix, ein bulliger Bretone mit grober Stimme, und Miguel Herrera, ein drahtiger Andalusier mit wettergegerbtem Gesicht. Ihre Gesichter waren bekannt, die besten Tage hatten sie hinter sich. Jetzt saßen sie ausgerechnet hier, keine 300 Meter von der Celandine entfernt, die sich als ein Niederländisches Handelsschiff ausgab, angetrunken, lachten schallend, während sie sich stritten.

Ein beunruhigendes Wiedersehen, dass nur Ärger bedeutete.

Natalien wurde unaufmerksam.

Die Karten glitten aus seiner Hand, er setzte gedankenlos, während seine Augen zu den beiden Männern wanderten. Ein Fehler. Der Franzose kassierte mit einem zufriedenen Nicken, und Natalien spürte, wie ein Drittel seines Einsatzes den Besitzer wechselte.

Er atmete tief durch, ballte die Hand zur Faust und zwang sich, den Blick wieder auf den Tisch zu richten. Nicht ablenken lassen. Nicht jetzt. Er konnte es sich nicht leisten, zu verlieren.

Doch es war zu spät. Seine kleinen Erfolge hatten schon zu viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Immer mehr Glücksritter drängten sich an den Tisch, jubelten oder spotteten. Auch Delacroix und Herrera hörten mit ihrem Streit auf und starrten nun zu ihm herüber. Sie waren offensichtlich darüber informiert, dass er inzwischen als Erster Offizier der Celandine angeheuert worden war. Ihre Gesichter verzogen sich zu spöttischen Grinsen, und bald begannen sie, laut zu pöbeln.

Natalien versuchte, Überblick über die Karten in der Hand zu behalten, doch sie stellten sich unmittelbar hinter ihm, sodass er ihren Atem im Nacken spüren konnte. »Na, Ashcroft, oder?«, rief Delacroix höhnisch. »Schaut euch mal den feinen Herrn hier an, wie er den armen französischen Jungs das Geld aus den Taschen knöpft! Als wen gibst du dich aus, Junge? Italiener? Spanier?«

Herrera lachte schallend und fügte hinzu: »Wieviel davon musst du an den Hafenmeister abtreten, um eine Nacht in Ruhe docken zu können, ha?«

Nathalien konnte nicht weiterspielen.

Es war eine Sache, sich als holländisches Handelsschiff auszugeben, um das Seeembargo zu umgehen – solange man sich nicht zu sehr in den Vordergrund spielte, blieben die Behörden meist gelassen. Wer sich leise verhielt, wurde selten behelligt, denn auf dieser Insel war Schmuggel Alltag, solange niemand auffiel. Doch wehe, man schrie laut heraus, ein Engländer zu sein oder ließ allzu offensichtlich erkennen, dass mehr dahintersteckte – dann zog man Ärger an wie Motten das Licht und es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand genau hinsah.

Mit einem knappen Nicken schob Nathalien die Karten zurück, sammelte die Münzen n ein und erhob sich.

Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab, ließ das laute Treiben am Spieltisch hinter sich und trat mit festen Schritten in den Schankraum. Es überraschte ihn nicht im Geringsten, dass Delacroix und Herrera direkt hinter ihm herkamen – ihre Aufmerksamkeit war ihm gewiss. Natalien wusste, dass er keine Wahl hatte; wenn er um jeden Preis Ärger vermeiden wollte, musste er jetzt auf sie eingehen, ganz gleich wie ungemütlich das werden würde.

»Meine Herren«, sagte er ruhig, aber mit Nachdruck, »eure Streitereien mit Wexford waren vor meiner Zeit. Ich habe keinen Streit mit euch, ich mache nur meinen Dienst.«

Doch die beiden gaben keine Ruhe. Sie bedrängten ihn von beiden Seiten, als er den Schankraum betrat. »Wie kommt es«, spottete Herrera, »dass gerade du Erster Offizier wurdest, Ashcroft? Es gab genug andere! Was ist mit Grant? Der hätte den Posten haben müssen!«

Natalien blieb stehen. »Mr. Grant ist tot. Er hat sich gestern vor aller Augen erschossen.«

Die beiden verstummten, ihre Gesichter wurden ernst, die falten tiefer. Dann fragte Delacroix: »Und der Koch, Thorne? Was ist mit dem?«

»Tot«, entgegnete Natalien knapp. »Vor drei Wochen an Tripper gestorben.«

Ein erneutes Schweigen, dieses Mal länger, ernsthafter. Schließlich lachte Herrera rau und bösartig. »Was ist denn los auf dem Schiff, Herzchen, bringst du etwa Pech, ha?«

Natalien winkte den Schankknecht heran, bestellte für sie alle Getränke. Der sicherste Weg, sie wieder loszuwerden, war sie besoffen zu machen.

 »Es läuft nicht gut«, gab er zu. »Wie ist es euch ergangen? Ihr habt das Schiff vor mir verlassen. Wärt ihr geblieben, wäre einer von euch erster Maat.«

Nathalien wollte ihnen damit schmeicheln, wissend, dass er ein sensibles Thema ansprach. Die beiden Matrosen wechselten Blicke, als ob sie abschätzen wollten, ob er sie verspottet. Dann verzogen sie die Münder zu grimmigen Grinsen und spuckten gleichzeitig vor Natalien auf den Boden.

»Geht dich nichts an«, knurrte Delacroix.

 

 

Philippa saß erschöpft in einem kleinen Nebenraum, vor ihr dampfte eine Schale Suppe. Sie schmeckte nach kaum etwas, spürte nur die Wärme. Das allein war Trost. Sie hatte sich die Hände und das Gesicht waschen dürfen, und das Gefühl von frischem Wasser auf der Haut hatte ihr die Schwere des Tages genommen. Eine der Nonnen stellte ihr ein kleines Likörglas hin, der süße Schluck brannte angenehm und gab ihr neue Kraft.

Während sie löffelte, erzählte Philippa stockend und bewusst lückenhaft, was ihr widerfahren war. Sie sprach von ihrem Unglück, vermied aber Namen, Orte oder die Nationalität des Schiffes. Zu groß war die Angst, jemand könne sie mit England in Verbindung bringen. Alles blieb vage, andeutungsweise, beinahe dubios. Sie hoffte, dass ihre Art zu sprechen, ihre Kleidung, ihr Auftreten reichten, damit man ihr glaubte.

Die Nonnen hörten schweigend zu, tauschten lediglich manchmal Blicke. Einmal flüsterte die Jüngere der Älteren etwas zu, das Philippa nicht verstand. Dann legte die Ältere ihre Hand auf Philippas Arm und sagte:

»Mange, mon enfant! Worte machen nicht satt. Wir verstehen. Wir werden für euch sorgen. Es gibt einen Ort, wo ihr sicher seid.«

Philippa ließ den Löffel erleichtert sinken, atmete auf. Da öffnete sich die Tür. Ein kleiner, rundlicher Priester trat ein, sein Gesicht voller Falten, doch mit einem ständigen Lächeln versehen. Er trat sofort zu ihr, nahm ihre Hände in die seinen und schüttelte sie warm.

»Solch feine Hände«, sagte er gerührt und hörbaren spanischen Akzent. »Eine junge Dame in Not. Fürchtet euch nicht. Ihr seid bei Freunden, bei guten Christenmenschen.«

Philippa nickte, die Augen voller Erleichterung. Sie versuchte dem Pater zu erklären, dass sie gerne nach Hause zurückkehren wollte. Sie sprach davon, dass sie wisse, nun auf einer Insel gestrandet zu sein, und fragte, ob es eine Möglichkeit gäbe, mit einem Schiff zu reisen, vielleicht mit jemandem aus ihrer Gemeinschaft, wenn diese die Insel verließen.

Der Pater lachte nur sanft, drückte ihre Hände und sagte: »Kind, ihr müsst euch keine Gedanken machen. Um euch wird sich gekümmert.« Auch die Nonnen wiegten den Kopf, beschwichtigend, und wiederholten, sie solle essen und ihre Kräfte schonen.

Nachdem sie die Suppe beendet hatte, richteten die Frauen ihr Haar, gaben ihr einen sauberen, schlichten Umhang und boten ihr auch an, die Kleidung zu wechseln. Philippa weigerte sich, aus Angst, ihren Schmuck zu zeigen – die Kette mit dem Kruzifix und dem Ring. Beide trugen das Wappen ihrer Familie und würde sie sofort als englische Adlige verraten. In Zeiten des Krieges mit Frankreich würde ihr das unweigerlich Ärger einbringen. Die Nonnen drängten nicht weiter, sondern halfen ihr nur beim Umlegen des Mantels. Dann baten sie sie, mitzukommen.

»Wohin bringt ihr mich?«, fragte Philippa hoffnungsvoll. Vielleicht konnte sie heute noch wieder nach England aufbrechen.

Die Ältere lächelte.

»Zu einem Ort der Ruhe. Ihr werdet dort sicher sein.« Mehr sagte sie nicht.

Philippa ging davon aus, dass es ein Schlafsaal des Klosters sei oder vielleicht ein Hospital, in dem nur Schwestern lebten. Draußen war es inzwischen Nacht geworden. In den Gassen war es laut, Matrosen schwankten lärmend aus Spelunken, Türen flogen auf, Licht und Musik ergossen sich auf die Straße, betrunkene Männer wurden hinausgeworfen und gleich wieder hineingezogen. Lachen, Gesang, eine Frauenstimme, die ein Lied schmetterte. Philippa war froh, nicht allein gehen zu müssen; ohne die Nonnen hätte sie sich schutzlos gefühlt.

Sie hielten vor einem großen Gebäude mit mehreren Etagen. Helles Licht strömte aus den Fenstern, schrilles Lachen von Männern und Frauen drang heraus. Philippa stutzte, doch die Nonnen gingen zum Glück nicht hinein, sondern führten sie in eine dunkle Seitengasse. Ein Hund bellte in der Nähe, um dann ihn ein wehleidiges Jaulen überzugehen. Ratten huschten an ihnen vorbei. Philippa verkrampfte sich. Doch zum Glück blieben sie endlich stehen.

Dreimal klopfte die Jüngere an eine unscheinbare Tür. Ein Riegel schob sich zurück, jemand ließ sie nach einem kurzen, unverständlichen Gespräch ein. Drinnen war es hell und stockig, der Geruch von starkem Parfum hing in der Luft. In einer großen Küche wurde gearbeitet, Stimmen riefen durcheinander, Geschirr klapperte. Philippa folgte, erleichtert nicht mehr allein zu sein, und redete sich ein, dass dies Teil der klösterlichen Ordnung sein musste. Sie war in einem fremden Hafen, in einer fremden Welt – und die Nähe der Nonnen schien ihr der einzige Halt.

Man führte sie eine enge Treppe hinauf. Das Essen hatte sie gewärmt, der Likör machte sie schläfrig, und sie sehnte sich nach einem Bett. Schon stellte sie sich vor, in einem sauberen Schlafraum zur Ruhe zu kommen. Nur noch wenige Schritte.

Der Lärm der Straße hallte noch durch die Wände: das Johlen der Matrosen, das Klirren von Krügen, eine Frauenstimme, die überlaut jemanden anschrie und plötzlich zu verstummen. Für Philippa verschwamm alles zu einem dumpfen Tosen, das sie nur noch müde machte. Sie folgte gehorsam, im Halbschlaf, den Nonnen die Stufen hinauf.

Doch bevor sie eines der vielen Zimmer erreichen konnte, trat ihr eine Frau entgegen. Sie war schwarz gekleidet, trug starkes Parfum, die Haare eindeutig gefärbt – keine Nonne, das war sofort klar. Mit strengem Blick griff sie nach Philippas Händen, betrachtete sie eingehend und strich über ihre Finger, als wollte sie die Haut prüfen. Dann zwickte sie ihr plötzlich in den Oberarm.

»Qu’est-ce que c’est?« rief Philippa erschrocken.

Die Fremde nickte nur knapp, ließ nicht los und zog ein kleines Säckchen hervor, das sie den Nonnen übergab. Diese öffneten es, zählten rasch die Münzen darin – eindeutig Geld. Philippa war fassungslos. »Was soll das?«, stieß sie erneut hervor, wieder wach. Doch die Nonnen wandten sich von ihr ohne ein Wort des Abschieds ab, das Geld zwischen den Gewändern verstauend.

Philippa wollte ihnen folgen, doch ein glatzköpfiger Mann, der sie um zwei Köpfe überragte, trat aus dem Schatten, versperrte ihr den Weg und packte sie grob an beiden Armen. Gemeinsam mit der Frau zerrte er sie in ein Zimmer, warf sie hinein und verriegelte die Tür von außen.

Der Raum war karg, kaum mehr als ein schmaler Holzrahmen mit einer Matratze befand sich darin. Der Geruch nach billigen Parfum hing auch hier in der Luft, vermischt mit feuchtem Holz und kaltem Rauch. Philippa taumelte zum Bett, setzte sich auf die Matratze und fühlte, wie das schwache Gestell unter ihr nachgab. Eben noch hatte sie sich nach einem Bett gesehnt – jetzt schien es ihr wie eine Falle. Mit zittrigen Knie und Händen kauerte sie sich zusammen, doch sobald ihr klar wurde, dass die Nonnen sie an diese Menschen verkauft haben mussten, erhob sie sich wieder.

Sie sprang auf, lief zur Tür, hämmerte dagegen, rief auf Französisch und Deutsch: »Lasst mich heraus! Es ist ein Missverständnis! Ich brauche Hilfe!« Doch niemand reagierte. Sie wandte sich zum kleinen Fenster, stieß es auf und schrie hinaus, doch ihre Stimme ging im Lärm des Hafens unter. Musik, Gelächter, Rufen – alles verschluckte ihre Hilferufe.

Verzweifelt presste sie die Stirn gegen das dreckige Glas. Sie drehte sich um, sah sich in dem kleinen Raum um, als könnte er eine Antwort geben. Nur die dunklen Schatten, das schiefe Licht des Mondes durch das kleine Fenster. Philippa ließ sich schließlich erschöpft auf das Bett sinken, die Hände im Schoß gefaltet, und flüsterte:

»Mein Gott … wo bin ich hier nur gelandet?«

 

 

Die Schenke war stickig, das Holz des Tisches klebrig vom verschütteten Bier, und die Krüge standen wie eine kleine Barrikade zwischen ihnen. Gelächter, Flüche, das Scheppern eines zerbrochenen Glases dröhnten aus dem Schankraum, während Natalien die beiden Männer musterte. Er hob den Becher, nippte, zwang sich, bei seiner nächsten Frage gelassen zu klingen:

»Warum habt ihr euch ausgerechnet von der Celandine anheuern lassen? Handelsschiffe hätten euch doch auch genommen?«

Delacroix lachte heiser, ein Laut, der nach Husten klang. »Nee, für die waren wir zu dreckig.«

Herrera verzog den Mund. »Wenn selbst die Spanier einen nicht wollen, dann bleibt man du den Schmugglern hängen.«

Dann sahen sie Natalien an, dachten weiter über seine Frage nach. Delacroix’ Blick wurde prüfend. »Wie bist du auf die Celandine geraten, Ashcroft? Vor zehn Jahren warst du doch noch bei der Royal Navy.«

Natalien schluckte, der Becher in seiner Hand wurde schwer. Er zwang sich zu einem gelassenes Nicken.

Herrera grinste breit. »Was hast du angestellt? Die Knöpfe nicht blank genug poliert? Einen Hintern nicht tief genug ausgeleckt? Die Navy entlässt einen nur, wenn man tot, Abschaum oder fünfzig ist.«

Natalien wollte nicht darüber reden und wechselte das Thema.

»Was ist vor zwanzig Jahren auf der Celandine passiert? Ihr wart ein Teil der Mannschaft, oder?«

Die beiden wurden still, das Grinsen wich ihnen aus dem Gesicht.

»Warum willst du das wissen?«, fragte Herrera misstrauisch.

Natalien setzte sein Glas hart ab. »Grant. Der hatte sich aus heiterem Himmel vor der Mannschaft auf dem Deck erschossen. Davor machte er darüber ein paar seltsame Anmerkungen in Richtung Wexford.«

Delacroix’ Stirn legte sich verärgert in Falten, als der Name des Kapitäns fiel. Herrera schnaubte. Dann sagte Delacroix rau: »Manche Dinge soll man ruhen lassen.«

Natalien lehnte sich zurück, die Hände fest um den Becher. »Ja? Seit zwei Stunden hängt ihr mir am Rockzipfel. Wenn ihr in Ruhe gelassen werden wollt, damit zum Beispiel, warum sitzt ihr dann mit mir hier?«

»Du schaust uns nach viel Vergnügen und ein paar lockeren Münzen aus. Gönn uns doch alten Matrosen ein paar Gläser auf Kosten der Celandine«, erwiderte Herrera und stieß ihm den Krug entgegen.

Natalien lachte bitter. »Ich sehe nach Vergnügen aus? Das glaube ich nicht mal selbst.« Er führte den Krug an den Mund und leerte ihn mit einem Zug. Das Lachen und Johlen der Schenke schwoll an, ein Matrose stürzte neben ihnen vom Tischgrölend zu Boden. Sein Kopf pochte, der Magen drehte sich leicht. Und doch blieb er sitzen, weil er wusste: Würde er jetzt gehen, verpasste er die Chance an Informationen zu kommen, die er brauchte.

»Kennt ihr einen Thomas Cooper?« fragte er irgendwann, während er schwer den Becher abstellte.

Herrera dachte nach, strich sich übers Kinn und grinste. »Thomas Cooper? Davon kenne ich mindestens zwei.«

Delacroix nickte. »Drei sogar. Tommy Cooper, Tom Cooper, Tony Cooper … «

»Diente einer von ihnen auf der Celandine

»Nee«, antworteten beide gleichzeitig.

»Und jemanden, der Assad al-Layy genannt wird

»Nie gehört«, meinte Delacroix knapp.

Herrera wiegte den Kopf. »Vielleicht, irgendwo …« Er grübelte, starrte angestrengt in seinen Krug. Nathalien hielt die Luft an, doch am Ende schüttelte der nur den Kopf. »Nein. Doch nicht.«

»Ich muss«, beschloss er schließlich enttäuscht, erhob sich schwankend und schleppte sich hinaus, blieb an einer Wand stehen, öffnete die Hose und erleichterte sich, den Arm gegen die Mauer gestützt. Der Urinfluss schien kein Ende zu nehmen und lullte ihn in den Schlaf. Schließlich richtete er sich wieder auf, als nach einer langen Weile nichts mehr kam, stopfte die Kleidung zurecht und schwankte zurück.

Da prallte er in eine umhüllte Gestalt und schüttelte seinem Kopf.

»Pardon«, murmelte er und wollte einen großen Bogen um sie drehen.

»Wir müssen reden«, flüsterte eine leise Frauenstimme.

Er kniff die Augen zusammen, erkannte aber nichts, zu tief war die Kapuze ins Gesicht gezogen.

»Mir ist gerade nicht nach reden«, brummte Natalien und rieb sich die Stirn. »Ich bin zu betrunken. Ein andermal.«

»Nein«, beharrte sie. »Es ist wichtig. Folgt mir.«

Er sah durch die offene Tür in die hellerleuchtete Schenke. Delacroix und Herrera hatten längst die Köpfe auf den Tisch gelegt und waren eingeschlafen. Ein anderer Gast beugte sich schon zu ihnen, tastete nach ihren Geldbeuteln. Natalien überlegte, ob er eingreifen sollte. Doch dann schüttelte er den Kopf.

Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, auch sie einfach zu ignorieren, wie die anderen, und sich zurück in die Wärme einer anderen Schenke zu flüchten. Doch in ihrer Stimme hatte etwas gelegen, das ihn innehalten ließ – eine solch dringliche Note, dass er sich, obwohl alles in ihm Alarm schlug, nicht abwenden konnte. Getrieben von einer plötzlichen, neugierigen Regung, vielleicht auch nur, weil er spürte, dass etwas Bedeutendes hinter dieser Begegnung lauerte, zwang er sich, seinen Instinkt zum Schweigen zu bringen und der Gestalt zu folgen.

 

Philippa hatte den Türknauf schon so oft gerüttelt, dass ihre Finger wund waren. Kein Millimeter gab das Schloss nach. Sie war auf das Bett gestiegen, hatte sich am schmalen Fensterrahmen hochgestemmt, sich die Haut an den Kanten aufgerissen – das Glas war zu klein, nicht einmal ein Kind hätte sich hindurchzwängen können. Der Sturz zurück auf den Boden ließ ihre Knie schmerzen, doch sie rappelte sich sofort wieder hoch. Ein wilder Versuch, das Bettgestell umzustürzen, brachte nur Staub und Splitter zum Vorschein. Inmitten all des Aufruhrs tastete sie hektisch an ihrer Brust entlang, vergewisserte sich, dass der Schmuck, den sie bei sich trug, noch sicher war. Sie hatte ihn vorsorglich tief unter ihr Dekolleté, ins Korsett geschoben, in der Hoffnung, dass ihn dort niemand so leicht entdecken würde.

Ihre Stimme hallte heiser im Raum. Erst hatte sie auf Englisch geschrien, dann auf Französisch, zuletzt auf einem brüchigen Deutsch, das sie selbst kaum verstand. Jede Silbe war Verzweiflung, Drohung, Flehen. Doch die Tür blieb verschlossen, und die Wände antworteten nicht.

Gerade als sie kraftlos die Stirn gegen das Holz sinken ließ, drehte sich der Schlüssel. Ein Knacken, ein Knarren – erschreckend laut nach all der Stille. Im Rahmen stand der Mann, der sie hierhergebracht hatte. Breit, wortlos, mit einem Gesicht, das nichts verriet. Bevor sie reagieren konnte, packte er sie am Arm. Seine Finger pressten sich in ihr Fleisch, so fest, dass ihr der Atem stockte.

Er zerrte sie den Gang entlang. Ihre Schritte stolperten über die unebenen Dielen, ihre Schultern stießen gegen die Wände. Hinunter, über den Hof, bis zu einem Nebengebäude, dessen hölzerne Tür weit offen stand.

Der Geruch von Feuchtigkeit, Schweiß und Seife schlug ihr entgegen. Es war ein Badehaus, roh und schmucklos, mit Zubern, die im Halbdunkel standen. In einem davon dampfte kein warmes, sondern stillstehendes, kaltes Wasser. Der Mann stieß sie hinein, so dass sie auf die Knie fiel.

»Da«, knurrte er, zeigte auf den Zuber und warf ihr etwas entgegen. Philippa schrie auf, duckte sich, glaubte für einen entsetzlichen Augenblick, er habe ihr ein totes Tier zugeworfen. Doch als es auf dem Boden klatschte, erkannte sie einen nassen Lappen. Der Gestank war beißend, als wäre er seit Tagen in fauligem Wasser gelegen.

Sie presste die Hand vor die Nase. »Si je me lave là-dedans, je serai plus sale qu’avant!« rief sie entrüstet. Das macht mich noch schmutziger, nicht sauberer!

Der Mann reagierte nicht, schlug die Tür zu, und das Riegeln hallte laut durch den Raum.

Philippa stand allein, das Herz raste. Der Zuber mit dem kalten, trüben Wasser schimmerte im fahlen Licht, der Lappen lag schwer und stinkend am Boden. Sie wich zurück, schüttelte den Kopf. Nein. Sie würde das nicht anfassen. Was auch immer das hier war – sie ahnte längst, in welcher Art von Haus sie sich befand. Es war kein Ort der Fürsorge, kein Kloster. Eher etwas ganz anderes, ein Ort, an dem Frauen nicht freiwillig lebten. Sie klammerte sich an ihren Mantel, zog ihn fester um die Brust und flüsterte mit weitaufgerissen Augen: »Ich muss hier raus. Ich muss hier unbedingt raus.«

Es blieb ihr kaum Zeit, den Gedanken weiterzuspinnen. Keine fünf Minuten später kam der Mann zurück, diesmal nicht allein. An seiner Seite war eine Frau, nicht jene Parfümierte von vorhin, sondern eine andere, die verängstigt und angetrunken wirkte. Ihre Schritte schwankten, die Augen blickten matt. Wortlos öffnete er die Tür, stieß sie hinein, packte Philippa am Handgelenk und zerrte sie so grob hinaus, dass sie kaum aufrecht bleiben konnte.

Diesmal führte er sie durch den größeren Eingangsbereich. Kerzen flackerten, Stimmen hallten, Gelächter und Musik dröhnten. Philippa schrie den betrunkenen Fratzen Fremder entgegen, rang mit ihrem Entführer und flehte um Hilfe – doch niemand griff ein. Männer in groben Matrosenkleidern, andere in feinen Mänteln, sahen sie an, lachten, prosteten sich und ihr zu. Frauen mit tiefen Dekolletés oder ganz ohne Oberteil lehnten an den Wänden, betrachteten die Szene ohne Mitleid.

Philippa hatte Gewissheit darüber, wo sie sich widergefunden hatte: in einem Bordell.

Noch ehe sie ihre schreckliche Situation realisieren konnte, blieb der Mann vor einer Tür stehen. Mit einer schnellen Bewegung packte er ihr Kleid, riss es mit bloßen Händen auf.

Stoff zerriss. Plötzlich stand sie nur noch im Unterhemd, mit Strümpfen und Schuhen, vor aller Augen gedemütigt. Dann stieß er sie in den Raum hinein. Der Boden war mit Kissen bedeckt, die Luft stickig. Es roch nach Mensch, nach kaltem Schweiß, nach salzigem Meereswasser, verschüttetem Rum und süßlichem, altem Parfum. Philippa würgte. Für einen Augenblick sehnte sie sich zurück nach der verräucherten Kombüse der Celandine – so schlimm stank dieser Raum. Ihr Magen krampfte sich zusammen, während sie versuchte, Luft zu bekommen.

Mit weichen Knien stand sie da, die Hände um ihr Unterhemd geklammert, und starrte auf die geschlossenen Türen.

»Mein Gott«, flüsterte sie voller Angst. Zögerlich trat sie tiefer in den Raum, in den Schatten, bedacht, nichts zu berühren. Alles, was hier lag, wirkte schmutzig und abstoßend. Sie hielt den Atem an, als die Tür erneut aufging. Ein Mann trat ein – sauber gekleidet, der Schnitt seiner Uniform verriet ihn als französischen Offizier. Philippa war im ersten Moment erleichtert, dass es keiner der stinkenden Matrosen war, die sie zuvor gesehen hatte.

Hastig wandte sie sich an ihn, sprach Französisch: »Monsieur, das ist ein Missverständnis! Ich bin hier falsch, ich brauche Hilfe. Bitte hört mich an!« Ihre Stimme überschlug sich. »Ihr seid ein Mann von Stand, ihr müsst erkennen, dass ich nicht hierhergehöre. Ihr seid gewiss ein Held, und auch wenn ihr auf der falschen Seite steht, ihr werdet mir helfen …«

Sie merkte selbst, wie sie sich verhedderte, und ärgerte sich schrecklich über den Mangel an Souveränität. Dennoch, die Worte sprudelten weiter aus ihr hervor, ein Schwall von Erklärungen und Bitten. Der Offizier runzelte die Stirn, verschränkte die Arme und sagte schließlich trocken:

»Vous parlez trop

Er drehte sich um und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort. Philippa blieb zurück, halb erleichtert, halb tief gekränkt. Immerhin hatte er sie nicht angerührt. Vielleicht genügte das. Vielleicht musste sie nur schnell genug den Herren ihre Lage erklären, und sie würden, ganz die Gentlemen, die sie waren, von ihr lassen.

Wenig später öffnete sich die Tür erneut. Eine Frau trat ein – die, die andere Gäste im Vorbeigehen ehrfurchtsvoll »Madame« nannten und die sie in Empfang genommen hatte. Ihre Schritte waren fest, ihr Kleid roch penetrant nach billigem, altem Parfum. Philippa hob sofort die Stimme: »Madame, das muss ein Missverständnis sein. Ich bin hier falsch, ihr müsst—«

Die Antwort war eine Ohrfeige. Hart, überraschend, brennend. Philippa taumelte zurück, fiel zu Boden, und ihre Wange glühte. Es war die erste Ohrfeige in ihrem Lebens. Noch nie hatte jemand gewagt, sie so zu behandeln – sie, die von Geburt an stets die ranghöchste im Raum gewesen war.

Benommen sah sie auf, während die Madame sich über sie beugte. Der Duft ihres Parfums raubte ihr den Atem. Kalte Augen, dunkle fixierten sie.

»Wenn Ihr nicht auf der Stelle schweigt und den nächsten Mann nehmt, der durch diese Tür kommt, dann erlebt ihr den morgigen Tag nicht mehr, Mademoiselle

Mit diesen Worten wandte sie sich ab, öffnete die Tür und verließ den Raum. Philippa blieb allein zurück, mit brennender Wange, rasendem Herzen und der Erkenntnis, wie gefährlich ihre Lage war und das sie nach dieser Nacht nie wieder die Gleiche sein würde.


 

 

 

 

 

 

KAPITEL VII

Turbulenzen

 

Die Gassen von Île d’Yeu lagen voller Rauch, Gelächter und schief gesungenen Liedern. Nathalien drängte sich durch die Menge, den Mantelkragen hochgeschlagen. Sein Kopf pochte, jeder Schritt war schwer. Noch rauschte der Wein in seinen Schläfen, und er wusste, dass er klarer denken musste, wenn er die Männer zurückholen wollte.

Drei Kneipen weiter fand er Jimmy. Der Bursche, kaum zwölf, grinste über ein paar Kupfermünzen, die er gerade im Würfelspiel an sich gezogen hatte. Nathalien packte ihn am Kragen, zog ihn vom Hocker.

»Genug, Junge. Du gehst los und holst Dobrovolsky. Sag ihm: nüchtern an Bord, und zwar sofort.«

Jimmy nickte erschrocken, verstand auf der Stelle, wie ernst es ihm war, stopfte die Münzen in die Tasche und huschte davon.

Draußen begegnete Nathalien Bill Carter, der mit glasigem Blick und schwankendem Schritt aus einer Seitengasse kam, die Hose hochziehend. Das trübe Auge des Mannes blinzelte im Schein der Laterne.»Zurück aufs Schiff, Carter«, befahl Nathalien ohne Umschweife.

»Aye, Sir.«

»Wo ist Hemsley?«, fragte Nathalien und eilte an ihm vorbei.

Bill grinste schief und rief ihm nach. »Im Haus der drei Schwestern. Wo sonst.«

Natürlich. Mr. Hemsley hielt sich zwischen Frauen und Branntwein auf.

»Such Pike und Dubois. Sag ihnen: in zwei Stunden an Bord. Wer nicht da ist, bleibt zurück.«

Bill nickte und schlurfte in die andere Richtung davon. Nathalien zog weiter, das Herz schlug ihm bis in die Schläfen. Er griff in die Tasche und fühlte das Gewicht der Börse. Dreißig Pfund Vorschuss – genug, um die Männer notfalls mit Geld vom Tisch abzukaufen.

Sein Blick verschwamm.

Der Boden unter ihm schwankte, und beinahe wäre er in einen Karren voller Pferdedung gestürzt. Fluchend hielt er sich an der Deichsel fest, schüttelte den Kopf, taumelte weiter, bis er den Klang von Wasser hörte. Ein Brunnen stand am Ende der Gasse.

Er beugte sich, tauchte das Gesicht tief in den Eimer. Das Wasser war eiskalt, bissig, ließ ihn scharf keuchen. Tropfnass richtete er sich auf, wischte das Haar aus der Stirn. Für einen Augenblick war die Welt klarer, die Sinne wacher.

Vor der nächsten Schenke tobte eine Schlägerei. Männer hatten einen Ring gebildet, schrien, lachten, warfen Münzen auf den Boden. Nathalien erkannte Kwame Mensah, der mit blutiger Nase und wilder Freude die Fäuste schwang.

Mensah war eine Erscheinung, die den Ring beherrschte: groß gewachsen, mit dunkler, glänzender Haut, die jeden Schlag widerspiegelte, als wäre sie aus Bronze. Sein Körper war kräftig, doch nicht schwerfällig, vielmehr bewegte er sich mit der Geschmeidigkeit eines Raubtiers. Er stammte aus der Goldküste, das hörte man an seinem rauen, sonoren Akzent, wenn er lachte oder seinen Gegner höhnisch anfeuerte.

Im Getümmel der Schlägerei wich Mensah den Angriffen mit überraschender Wendigkeit aus, seine breiten Schultern duckten sich unter Fäusten hinweg, während er mit schnellen, gezielten Schlägen selbst zuschlug. Die anderen Männer, viele einen Kopf kleiner als er, versuchten ihn zu fassen, aber Mensah war kaum zu halten. Ein Haken traf ihn am Kiefer, ließ ihn zurücktaumeln – doch er lachte nur, schüttelte das Blut aus der Nase und griff noch entschlossener an. Er steckte ein, als sei sein Körper für Schläge gemacht, doch seine Ausdauer und sein Mut waren es, die ihm im Kreis Respekt einbrachten.

Das Klirren der Münzen auf dem Pflaster, das Johlen und Grölen der Menge – all das schien Mensah Kraft zu geben. Niemand konnte ihm lange standhalten. Seine Bewegungen, geprägt von jahrelanger Erfahrung und dem Überlebenskampf auf See, vollführten ein raues Ballett aus Stärke und Schnelligkeit. Jeden Schlag, den er einsteckte, wandelte er in Energie um, die er doppelt zurückgab.

»Mensah!«, donnerte Nathalien, griff ihn am Oberarm und riss ihn aus dem Kreis. Der Afrikaner drehte den Kopf, Blut glänzte auf seiner Lippe, doch seine Augen funkelten voller Leben. »Captain, ich kämpfe. Ich gewinne.« Seine Stimme war tief, das Englisch rau, mit den gedehnten Vokalen der Küste.

»Ich bin kein Captain. Keine Kämpfe mehr.« Nathalien packte fester zu. »Zurück aufs Schiff. Sofort.«

Mensah schnaubte, wischte sich mit dem Handrücken das Blut von der Nase. »Immer eilen, immer Schiff. Und wer zahlt meinen Sieg?«

Nathalien drückte ihm einen halben Schilling in die Hand. »Das ersetzt dir, was du glaubst, verloren zu haben. In zwei Stunden an Bord. Oder du bleibst hier.«

Einen Augenblick lang hielt Mensah still, drehte die Münze zwischen seinen Fingern, dann nickte er langsam. »Zwei Stunden. Ich komme.«

Nun blieb noch Hemsley. Nathalien straffte den Mantel, richtete sich auf und ging weiter die Straße hinab. Am Ende flackerte das Schild: Haus der drei Schwestern. Von innen drang Musik, das Klingen von Krügen, das helle Lachen betrunkener Frauen, die für wenig Geld alles machten.

Nathalien atmete scharf ein, ballte die Fäuste. Er wusste, dass er Hemsley dort finden würde – und mit ihm vielleicht noch ein paar andere seiner Leute, die er dringend an Bord brauchte und die nicht so leicht zu überreden waren, zurück ans Schiffs zu gehen. Er ahnte schon, dass er sie womöglich hinauszerren musste und fuhr sich entschlossen durch das Haar.

 

Der Mann war drahtig, älter, und doch stellte er sich mit aufgerichtetem Rücken so hin, als wolle er größer wirken, als er wirklich war. Seine Glieder schienen sehnig, fast schmächtig, aber dieses Grinsen auf seinem Gesicht ließ ihn bedrohlicher erscheinen als jeder Muskel es vermocht hätte. Gelbliche, zu dick wirkende Zähne schoben sich breit hervor, ein Lächeln so unsympathisch, dass Philippa schon beim Anblick Übelkeit verspürte.

»Monsieur, Ihr irrt euch!« rief sie, bemüht, ihre Stimme fest zu halten, so wie sie es von Kindesbeinen an gelernt hatte, wenn man ihr Unrecht tat. »Ich bin nicht, was Ihr denkt. Ich bin eine Engländerin von Stand. Mein Onkel dient dem König, und mein Vater ist Herzog. Ihr müsst—«

Er kam näher, Schritt für Schritt, und schüttelte den Kopf. Dann begann er, sie nachzuäffen, mit höhnisch verzerrter Stimme: »Ich bin eine Engländerin von Stand … mein Onkel dient dem König … mein Vater ist Herzog …« Dazu lachte er, ein krächzendes, gieriges Lachen, das seine dicken, gelben Zähne noch mehr entblößte.

Philippa wich zurück, tastete nach Halt und stellte sich zwischen ihn und eine niedrige gepolsterte Bank, die im Raum stand. »Ihr müsst mir zuhören«, flehte sie, das Herz pochte ihr bis in den Hals. »Das ist ein Irrtum. Ein großer Fehler. Bitte, ich schwöre es bei Gott—«

»Gott!« unterbrach er sie, und sein Grinsen wurde breiter. »Lass Gott aus deinem Mund. Hier ist kein Ort für Gott.«

»Um Gottes willen, nehmt mich ernst!« rief sie, die Verzweiflung drängte sich in ihre Stimme. »Ich bin gegen meinen Willen hier.«

Er schnalzte mit der Zunge, amüsiert und zugleich verächtlich. »Mädchen, stell dich nicht so an. Leg dich hin. Ich hab nicht ewig Zeit.«

Philippas Hände zitterten, doch sie hob das Kinn. »Das wird nicht geschehen. Nicht mit mir. Ich schwöre, ihr werdet das bereuen!«

Da lachte er laut, schüttelte den Kopf, und seine Worte kamen lallend, von Atem und Schnaps geschwängert: »Das Einzige, was ich gerade bereue, ist der Eintopf, den ich vor zwei Stunden gegessen hab.«

Mit einem Ruck stürzte er sich auf sie. Philippa kreischte, trat nach ihm, doch er packte sie, presste sie mit aller Kraft gegen die Wand. Der Gestank seines Mundes, durchzogen von diesem Eintopf, brannte ihr in Nase und Kehle. Sie stemmte sich, rang, und für einen Augenblick gelang es ihr, ihn von sich abzustoßen.

Doch schon war er wieder bei ihr, drückte sie fester, härter, sein Körper lastete schwer auf dem ihren. Sie rang nach Luft, ihr Brustkorb schmerzte, ihre Arme wurden von seinen Händen wie in Eisenklammern gehalten.

Dann beugte er sich vor, und sie spürte die feuchte, widerwärtige Zunge über ihre Wange, weiter bis an die Stirn.

Philippa kreischte, so laut, wie ihre Kehle es zuließ.

 

 

Das Zimmer roch nach Schweiß, Wein und billigem Parfum. Hemsley lag ausgestreckt auf dem Bett, die Hose halb heruntergerutscht, eine dunkelhaarige Frau kichernd über ihm. In der Ecke rang Jonas Pike mit einer zweiten, während ein dritter, Smith, gerade die Hände an einer Nordafrikanerin hatte.

Ein schriller Pfiff von Nathalien schnitt durch das Durcheinander. Die beiden jüngeren Matrosen fuhren hoch wie ertappte Jungen, ließen die Frauen los. Nur Hemsley drehte träge den Kopf und meckerte:

»Was soll das, Ashcroft? Ich hab die Nacht frei!«

Die Frauen starrten mit aufgerissenen Augen auf Nathalien. Er griff in seine Tasche, warf ein paar Münzen aufs Bett. »Raus mit euch.«

Keine wartete, bis er es wiederholte. Hastig rafften sie ihre Kleider zusammen, stolperten hinaus.

»Verdammt!«, fluchte Smith. »Kaum einen halben Tag vom Schiff weg, und schon reißt Ihr uns raus. Weiß der Captain, was Ihr den ganzen Tag treibt? Dass Ihr uns nachstellt.«

»Aye«, fiel Pike ein. »Das Mädchen auf dem Schiff habt Ihr für euch behalten, aber uns gönnt Ihr nicht mal die hier. Das geht zu weit.«

Hemsley stemmte sich hoch, rot im Gesicht, die Hose noch immer an den Knöcheln. »Wir durften nicht mal an die ran. Jetzt lasst uns wenigstens unseren Spaß.«

»Genug!«, fuhr Nathalien sie an, die Stimme schneidend. »Es gibt mehr im Leben, als Frauen zu besteigen. Wir haben Wichtigeres vor uns.«

»Und wer hat das beschlossen, Ihr e –?«

In diesem Moment hallte ein Schrei durch die Gänge. Hoch, schrill, voller nackter Panik. Das Bordell verstummte für einen Herzschlag, nur noch das Keuchen der Männer blieb.

Alle Blicke wandten sich zur Tür.

Smith kratzte sich am Kinn: »Das muss die Kleine sein. Hab gesehen, wie der Große sie hochgeschleppt hat.«

Nathalien starrte ihn an. »Was?«

»Die Kleine vom Schiff«, bestätigte Pike. »Sah nicht freiwillig aus. Scheint denen in die Arme gelaufen zu sein.«

»Und ihr habt nichts getan?«, fauchte Nathalien und spürte, wie sein Blutdruck wieder stieg.

Smith zuckte mit den Schultern. »Was hätten wir tun sollen? Sie hat sich doch selbst verraten. Auf dem Schiff tat sie so vornehm, und nun hockt sie hier. Am Ende ist sie halt doch nur eine Hure.«

Hemsley nickte. »Für ’nen Moment hab ich ihr sogar geglaubt … das ganze feine Gerede. Aber offensichtlich stimmt nichts von dem, was sie erzählt hat.«

Nathalien schwieg, während ihre Schrei erneut durch die Flure gellte. Es schnitt ihm durch Mark und Bein. Doch die dreißig Pfund in seiner Tasche erinnerten ihn an seine vor kurzen geschlossene Vereinbarung.

Er atmete scharf ein und schüttelte das Bedürfnis, dem Mädel zu helfen ab. Er konnte nicht. Er durfte nicht.

»Wir müsse weiter. Hosen hoch, wir legen in einer Stunde ab.«

Hemsley spie aus. »Und wenn wir nicht —«

»Schluss!«, unterbrach Nathalien hart. »Wer nicht auf dem Deck ist, der bleibt hier. Mehr Beute für die Verbliebenen.«

Er griff in die Börse, ließ das Schimmern einiger Münzen vor ihren Augen aufblitzen. Zögernd, fluchend, doch vom Klang des Geldes überzeugt, zogen sie sich an. Einer nach dem anderen stolperten sie zur Tür hinaus.

Nathalien wartete, bis die Männer draußen waren, dann blieb er einen Moment still stehen. Der Schrei war verstummt. Eine unheimliche Ruhe lag über dem Gang. Er ballte die Hände, schüttelte den Kopf – und wandte sich ab.

 

 

Philippa lag am Boden, der raue Dielenboden rieb an ihrer Haut. Der Mann hatte sie niedergerungen, seine knochigen Knie drückten ihre Schenkel fest, eine Hand presste er ihr auf den Mund, so hart, dass sie kaum Luft bekam. Panisch biss sie zu. Ihr Mund füllte sich mit dem salzigen Geschmack seiner Haut.

Ein Schrei blieb ihr im Hals stecken, als seine Faust sie traf. Die zweite Ohrfeige in dieser Nacht, hart, brennend, so dass ihr Kopf gegen die Dielen schlug.

»Schlampe«, fauchte er, und aus seiner Tasche zog er ein zerknülltes Tuch – schmutzig, feucht, nach altem Schweiß und Schnaps stinkend. Er stopfte es ihr in den Mund. Philippa würgte, kämpfte gegen den Ekel, der ihr den Magen umdrehte. Sie wollte schreien, kotzen, alles auf einmal, doch das Tuch erstickte jede Regung.

Sie stemmte sich, kratzte mit den Nägeln nach seinem Gesicht, trat mit dem Knie, so hoch sie konnte. Aber er wehrte es ab, packte ihre Handgelenke wie Eisen, drückte sie nieder. Ihr Körper war schwach, ausgehungert, erschöpft – sie hatte kaum Kraft.

Sein Atem stank nach altem Eintopf, heiß und feucht in ihrem Gesicht. Er lachte heiser, schob mit der anderen Hand ihr Unterhemd hoch. »Jetzt ist’s soweit«, murmelte er, die Worte schwer, lallend.

Philippa wand den Kopf im letzten Augenblick zur Seite, als er sich erneut über sie beugte. Panik lähmte sie. Ein Gedanke schoss durch ihren Kopf: Oh Gott, oh Gott, jetzt geschieht es, und ich kann nichts tun.

Da – ein Geräusch. Ein dumpfer Schlag, hart, als träfe Holz auf Knochen. Der Körper des Mannes ruckte, sein Lachen brach ab. Schwer, schlaff, sackte er auf sie nieder.

Philippa erstarrte. Das Gewicht drückte ihr die Luft ab, der Geruch raubte ihr den Atem. Für einen furchtbaren Augenblick dachte sie, er sei über sie gekommen – bis sie begriff, dass er reglos war.

Mit letzter Kraft wälzte sie ihn von sich. Ihre Hände zitterten, ihre Kehle würgte an dem widerwärtigen Geschmack des Tuchs. Sie hustete, spuckte, riss es heraus und sog gierig Luft ein.

Dann hob sie den Kopf – und sah eine Frau über ihr stehen. Kein Mann, kein Ashcroft, nicht der französische Offizier.

Schwarz glänzendes Haar fiel ihr über die Schultern, und das Gesicht war ihr zugleich vertraut und unwirklich.

Philippas Augen füllten sich mit Tränen. »Miss Hewish«, flüsterte sie, ungläubig, und dann lauter, fast wie ein Aufschrei der Erleichterung: »Oh Gott … Miss Hewish!«

Sie stürzte auf die Frau zu, klammerte sich an sie, bebend, weinend, als hätte sie nie geglaubt, in diesem Augenblick noch einmal Halt zu finden.


ree

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