KAPITEL IV
- Leah Hasjak
- 11. Aug.
- 15 Min. Lesezeit
Alltäglicher Wahnsinn
Nathalien seufzte und strich sich müde über die Stirn. Mit fahrigen Bewegungen nahm er den Brief zur Hand, drehte das zerknitterte Papier zwischen den Fingern und betrachtete das Siegel, als suche er darin eine andere Wahrheit als die, die längst unausgesprochen in der Luft lag. Er wusste, was darin stand – nicht im Wortlaut, aber im Kern der Nachricht, deren Schatten bereits seit Jahren über ihm schwebte. Schon vor zehn, ja zwanzig Jahren waren Gerüchte umhergegeistert, erst leise geflüstert in dunklen Hafenkneipen, später mit wachsender Lautstärke durch die Gassen getragen. Nun schien es, als hätten diese alten Worte, genährt durch Zeit und Zufall, endlich genug Gewicht bekommen, um auch die Aufmerksamkeit seiner Lordschaft auf sich zu ziehen.
Er hatte geplant, den Brief in aller Ruhe zu betrachten, oder ihn wenigstens sicher zu verstauen, um später zu entscheiden, wie er weiter vorgehen sollte, doch statt sich für die Nacht zurückzuziehen und in seiner Kajüte zu verschanzen, wurde er durch heftiges Gepolter auf dem Deck aufgeschreckt.
Missmutig erhob er sich, stopfte den Brief hastig in seine Westentasche zurück und eilte nach oben, um nachzusehen, was vor sich ging.
Auf dem Deck bot sich ihm ein chaotisches Bild: Zwei Matrosen versuchten verzweifelt Mr. Grant daran zu hindern, Mehlsäcke über Bord zu werfen. Grant wirkte wild entschlossen, manisch, und schüttelte die beiden Männer grob von sich ab, um nach einem Sack zu greifen und diesen mit unbegreiflicher Kraft auf seine Schulter zu hieven.
»Grant!«, schrie Nathalien. »Was zu Hölle treibst du da, du Irrsinniger?«
Grant wandte sich zu ihm um, in seinem Blick flackerte Wut, Unruhe und Trotz. »Die Säcke sind verdorben, Sir! Ich rieche das Mutternkorn darin! Es wird uns alle krank machen!«
»Unsinn!«, erwiderte Nathalien scharf. »Ich habe das Mehl persönlich geprüft, bevor wir es an Bord genommen haben. Es ist völlig in Ordnung! Tu den Sack wieder runter, Mann, lass den Blödsinn sein, aye?«
»Ich weiß, was ich rieche und sehe, Mr. Ashcroft, Sir!«, gab Grant ebenso heftig zurück. Seine Stimme klang scharf und unnachgiebig. Mit einer raschen Bewegung drehte sich um und warf ihn entschlossen über die Reling. Die umstehenden Matrosen sogen scharf die Luft ein. Es schmerzte Nathalien das mit anzusehen, den ihre Mittel waren jetzt schon begrenzt.
»Du Wahnsinniger!«, schrie Nathalien außer sich vor Zorn. »Hast du den Verstand verloren? Weißt du, was du da gerade getan hast? Seit Wochen Hungern wir und du wirfst Nahrung über die Rehling.«
Grant antwortete nicht. Wie von Sinnen fuhr er sich über das Gesicht, knurrte Laut wie ein wildes Tier, als der Steuermann sich ihm nähern wollte, um ihn von den Säcken wegzuziehen.
Etwas stimmte nicht mit ihm. Nathalien beschloss, ihn zu überwältigen und festzubinden. Er suchte Dobrovolskys Blick, der auf der Stelle nickte, das gleiche denkend. Doch ehe sich zur Tat schreiten konnten, meldete sich die schleppende, von Alkohol getränkte Stimme des Kapitäns zu Wort, was nichts Gutes bedeuten konnte:
»Über zwanzig Jahre fahre ich mit dem Mann zur See. Wenn der sagt, das Mehl ist faul, dann ist es faul.«
Nathalien drehte sich zu ihm um. Der Kapitän schwankte zu ihnen über das Deck.
»Wer seid Ihr, dass Ihr Grants Urteil in Frage stellt, Ashcroft, ha? Wie viele Jahre habt Ihr auf dem Buckel. Zehn? Fünfzehn? Was wisst Ihr schon? Der Matrose sagt, das Mehl ist schlecht, also ist es schlecht.«
Nathalien wusste, dass es ihm nicht um Grant ging. Wexford mischte sich wegen dem abgehängten Kriegsschiff ein, noch immer wütend und gekränkt, dass er von ihnen überstimmt und von Nathalien missachtet worden war. Jetzt bekamen er die Rechnung für sein Ungehorsam serviert.
Er ballte seine Hände zu Fäusten und spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Ihm blieb keine Wahl, als sich dieser absurden Herausforderung zu stellen und erneut auf Konfrontationskurs mit diesem versoffenen Hund zu gehen.
»Captain«, sagte er mit ruhiger, eisiger Stimme, »bei allem Respekt, mischt euch nicht ein.«
Kapitän Wexford lachte abfällig. »Alles auf diesem Schiff, sogar euer Stuhlgang geht mich was an, Ashcroft. Und jetzt lass den Mann seine Arbeit machen.«
•
Unter Deck, in der schmutzigen Kombüse, saß Philippa auf einer alten, fleckigen Theke, die Füße bis zur Brust angezogen, um soweit wie möglich vom Boden entfernt zu sein. Ein Schatten war an ihr vorbei gehuscht, möglicherweise eine Ratte, und hatte ihr den Schrecken ihres Lebens eingejagt. Unbehaglich wippte sie hin und her und blickte genervt zur Tür, durch die eigentlich längst jener Mann hätte zurückkehren sollen, der ihr Wasser holen wollte. Wahrscheinlich war er irgendwo auf dem Weg zwischen all dem herumliegenden Müll verloren gegangen, hatte sich betrunken oder war gar über Bord gefallen.
Aus Langeweile und um sich von den huschenden Schatten abzulenken, griff sie nach einem feuchten Lappen, der achtlos herumlag, zog ihre Hand aber hastig zurück, als ein widerwärtiger, süßlich-fauliger Geruch aufstieg. Angewidert stieß sie den Lappen mit dem Fuß von der Theke und wandte sich schaudernd ab. Die Kombüse war ekelerregend dreckig, der Boden übersät mit verkrusteten Kartoffelschalen und anderem undefinierbarem Unrat.
Philippa seufzte tief. Sollte sie weiter warten oder lieber zurück in die saubere Kabine zurückkehren? Da hörte sie plötzlich Schritte draußen auf dem Gang. Rasch richtete sich erwartungsvoll auf, doch die Schritte entfernten sich wieder, ohne dass die Person hereingeschaut hätte. Enttäuscht ließ sie die Schultern sinken. Offensichtlich interessierte sich niemand dafür, ob sie hier festsaß oder nicht.
Philippa blickte ratlos umher. Sie sollteetwas kochen – aber was? Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas gekocht, dafür hatte es schließlich immer Bedienstete gegeben. Sie war nicht einmal sicher, ob sie überhaupt Feuer machen könnte. Natürlich hatte sie oft genug den Dienstmädchen zugesehen, wie sie den Kamin anheizten, und wusste theoretisch, wie es funktionieren musste. Doch als sie den schweren, metallenen Ofen ihr gegenüber betrachtete, mit der kalten, alten Asche, die ihn umgab und aus zwei Öffnungen quoll, und den daneben stehenden Kohleeimer, wusste sie: Nein, alleine würde sie das nie schaffen.
»Mutter Gottes, hilf mir«, murmelte sie hilflos. Zündhölzer konnte sie handhaben, um Kerzen oder Lampen anzuzünden, aber wie brachte man diesen monströsen Ofen dazu, warm zu werden? Vermutlich musste sie Kohle hineinlegen, das war offensichtlich. Aber hatte das Mädchen nicht immer auch etwas Papier oder kleine Holzspäne verwendet? Hier sah sie nichts dergleichen, außer die vertrockneten, stinkenden Lappen.
Ihr Blick fiel auf eine schmutzige, ölige Lampe, die auf einem Regal stand. Sollte sie versuchen, mit dem Öl der Lampe den Ofen zu entzünden? Wahrscheinlich würde sie am Ende die ganze Kombüse in Brand setzen – was, bei genauerer Betrachtung des verdreckten Raums, vielleicht gar kein so großer Verlust wäre.
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Nathalien platzte endgültig der Kragen. Als Mr. Grant, angestachelt von Wexfords Rückendeckung, den zweiten Mehlsack über die Reling hieven wollte, griff er beherzt ein und packte Grants Arm.
»Genug Irrsinn für einen Tag!«, fauchte Nathalien wütend.
Mit einem Ruck stemmte sich Nathalien gegen Grant, doch als er versuchte, ihn zurückzuziehen, spürte er überrascht, wie viel rohe Kraft in diesem zähen, vom Seewind gegerbten Mann steckte. Grant wirbelte herum, riss sich los und stieß Nathalien mit einer Wucht zurück, dass ihm einen Moment lang schwarz vor Augen wurde. Ein beißender, tierischer Gestank schlug ihm ins Gesicht – eine Mischung aus altem Schweiß, feuchtem Leinöl und Verwesung, die so bissig war, dass Nathalien sich unwillkürlich schüttelte. Für einen winzigen Augenblick glaubte er, gegen ein wild gewordenes Tier und nicht gegen einen Menschen zu kämpfen.
Nathalien griff erneut nach ihm und bekam ihn zu fassen. Grant stemmte sich mit aller Kraft gegen ihn, die Sehnen an seinem Hals hervortretend, die Kleider klamm und schmutzig, der Atem keuchend und rau. Nathalien spürte, wie ihm der Schweiß über die Stirn lief, während Grant sich wand und zappelte. Doch gerade, als sein Griff sich zu lockern drohte, stürzten auch schon die anderen Matrosen herbei. Sie packten Grant an den Schultern und am Gürtel, zogen und rangen gemeinsam mit Nathalien, bis sie den wild zappelnden Mann endlich unter Kontrolle hatten. Grant schrie, fuchtelte mit den Armen und wehrte sich mit ungeheurer Kraft, doch gegen die geballte Entschlossenheit der Mannschaft hatte selbst er keine Chance.
»Meuterei!«, schrie Wexford mit brüchiger Stimme. »Das ist Meuterei! Werft Ashcroft zusammen mit dem Mehl über Bord. Entledigt euch der Viper!«
Nathalien, dessen Hemd abgerissen und dessen Schläfe wegen eines gezielten Schlages heftig pochte, wirbelte herum und sah den Kapitän wütend an. »Captain, mit Grant stimmt seit Wochen nichts mehr! Helft uns den Mann zu beruhigen, statt Zwist zwischen uns zu streuen!«
Während er auf Wexford einredete, dirigierte er zugleich energisch jene Matrosen, die unschlüssig zwischen ihnen standen: »Bringt die Säcke zurück unter Deck! Sofort!«
Die Matrosen folgten zu seiner Erleichterung seinen Anweisungen, während er weiter versuchte, die Situation unter Kontrolle zu halten. Grants Blick war wild und fiebrig. Man hatte seine Arme auf den Rücken gedreht und zwang ihn in die Knie. Einer der Männer zielte ängstlich mit einer Pistole auf ihn.
»Beruhigt euch. Wir finden jemanden, der Euch helfen wird.«
Grant blickte ihn gehetzt zu ihm hoch, die Augen so weit aufgerissen, dass sie rauszuspringen drohten, den Mund voller Speichel, die Brust heftig bebend. Was auch immer ihn plagte, es war ernster Natur und hoffentlich, dachte sich Nathalien und bekreuzigte sich, hoffentlich nicht ansteckend.
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Philippa seufzte tief und betrachtete resigniert ihre schwarzen, mit Kohle verschmierten Hände, nachdem sie zuvor drei schwere Kohlebriketts in den Ofen gelegt hatte. Gedankenverloren wischte sie diese an ihrem einst sauberen, blauen Rock ab und seufzte erneut, als sie bemerkte, wie sehr sie nun auch ihren Rock beschmutzt hatte. Allerdings war die Kombüse ohnehin so dreckig, dass sie hier nun problemlos getarnt als Teil der Einrichtung durchgehen konnte.
Entschlossen begann sie, die Regale der Speisekammer zu durchsuchen, nur um hastig zurückzufahren, als sie eine weitere tote Ratte entdeckte, deren Anblick ihr Übelkeit bereitete. Der Gestank war unerträglich.
»Widerlich«, murmelte sie und richtete sich rasch wieder auf, um stattdessen die höheren Regale zu inspizieren. Sie starrte verwirrt auf allerlei fremdartige Utensilien, deren Zweck ihr vollkommen unklar war. Natürlich verstand sie sich auf Löffel, Gabel und Messer – doch all diese Gegenstände waren ungewöhnlich grob gearbeitet, schmutzig und voller Rostflecken.
Während sie die Regale weiter durchforstete, fand sie neben den üblichen Küchengeräten auch seltsame Dinge, die offensichtlich nicht hierher gehörten: Ein zerfetztes Stück Segeltuch, das mit Pech verschmiert war; einen alten Kompass, der einsam auf einem hölzernen Regal lag; und einen verdrehten, knotenreichen Strick, dessen Zweck sie sich absolut nicht erklären konnte. Ebenfalls seltsam erschienen ihr einige kleine Flaschen mit unbeschrifteten, dubiosen Flüssigkeiten darin, sowie ein zerbrochenes Fernrohr, das vermutlich schon lange niemand mehr benutzt hatte.
»Das ist keine Kombüse, das ist eine Rumpelkammer!«, schimpfte sie verärgert. Philippa schüttelte den Kopf und musste sich eingestehen, dass sie sich inzwischen über gar nichts mehr wunderte. Wenn die Küche stellvertretend für den Zustand des ganzen Schiffes stand, dann grenzte es an ein Wunder, dass diese Crew überhaupt lebend von einem Hafen zum nächsten gelangte. Sie erinnerte sich daran, wie sie einst in der Küche von Mrs. Goodwin, der Köchin von Great House, gestanden hatte, um heimlich Kuchen zu naschen, bevor die Teestunde eingeleitet wurde. Doch diese Küche hier hatte nichts mit der warmen, sauberen und einladenden Umgebung gemein, die Mrs. Goodwin und ihre Küchenmädchen stets so sorgfältig gepflegt hatten.
Ratlos ließ Philippa ihren Blick erneut über die chaotische Ansammlung fremder Gegenstände schweifen. Wie um alles in der Welt sollte sie hier auch nur das Geringste kochen können?
Philippa beschloss dennoch, einfach irgendwie anzufangen, um dann sagen zu können, sie hätte ihr Bestes gegeben und musste auf Grund der herrschenden Bedingungen scheitern.
Vorsichtig stellte sie einen der großen Töpfe auf den Herd. Kaum hatte sie dies getan, bemerkte sie jedoch, dass der Topf innen von einer dicken, undefinierbaren Schicht bedeckt war. Angewidert verzog sie das Gesicht. Eigentlich müsste dieser Topf erst gründlich gereinigt werden – etwas, das sie mit Sicherheit nicht tun wollte. Der Mann, der ihr helfen sollte, war immer noch unauffindbar, und ihre Lust, auch nur ansatzweise irgendetwas Essbares zuzubereiten, war endgültig verflogen. Es war vermutlich für alle Beteiligten das Beste, wenn sie doch nicht kochte.
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Mr. Grant sackte nach wenigen Minuten in sich zusammen und blieb heftig keuchend auf den Deck liegen. Der Steuermann und Jimmy setzten sich auf ihn drauf, und Nathalien nutzte die kurze Verschnaufpause, um ein Gespräch mit Captain Wexford zu suchen. Mit etwas Glück war der Mann für Vernunft zugänglich.
»Captain, ich verstehe, dass Ihr mir grollt – dass man Ihren Kurs infrage gestellt hat, kränkt Euch. Ich übernehme dafür die Verantwortung. Aber was wir jetzt brauchen, ist kein Groll. Es ist Führung. Mit Grant stimmt etwas nicht. Der Mann schäumt vor Wut, ist nicht mehr zurechnungsfähig. Ein Teil unserer Ladung liegt bereits auf dem Meeresgrund, und die Kisten, die wir retten konnten, sind kaum etwas wert. Unsere Kasse ist leer. Wenn wir jetzt auch noch zulassen, dass persönliche Animositäten das Ruder übernehmen, dann verhungern oder kentern wir.«
»Ihr, Ashcroft, Ihr seid das Problem«, erwiderte Wexford und fuhr sich mit einem Ärmel über die Lippen. »Seit ich euch anheuerte, brachtet ihr nur Unglück über uns. Wie ein unnützes Weib auf dem Schiff, dass nichts weiter als Ärger macht.«
Früher hätte nur der verächtliche Blick des Mannes gelangt, um Nathalien zu einer Reaktion zu zwingen und den Mann zu würgen, oder um zuknallen. Doch die letzten Jahre haben auch bei ihm Spuren hinterlassen. Die Worte rührten ihn nicht, lockten ihm lediglich einen resigniertes Stöhnen ab, was Wexford wiederum wütend machte.
Grant, eben noch am Boden, schaffte es mit einem plötzlichen, übermenschlichen Ruck, den Steuermann und Jimmy von sich zu schleudern. Sie waren unachtsam gewesen, wie alle anderen – zu gebannt von dem hitzigen Wortwechsel zwischen Nathalien und dem Kapitän.
In dieser kurzen Lücke der Unaufmerksamkeit schnappte sich Grant die Pistole eines jungen Matrosen, der sie auf ihn gerichtet hatte, um ihn ruhig zu halten. Der Mann hatte kurz weggesehen – ein Fehler. Grant hielt die Waffe mit fahriger Hand, drehte sich ruckartig um und richtete sie auf Nathalien.
»Peggy wusste es, sie hat es mir gesagt!«, schrie Grant verzweifelt, während er hektisch mit der Pistole gestikulierte. »Wenn ich sterbe, dann nicht alleine! Einer von euch muss mit mir gehen! Ich will nicht alleine sterben!«
Panik brach unter den Crewmitgliedern aus, sie wichen zurück. Nathalien blieb äußerlich ruhig, dabei rutschte auch ihm das Herz in die Hose. Langsam hob er die Hände, trat auf ihn zu und sprach sanft auf ihn ein.
»Grant, beruhige dich. Leg die Waffe weg. Lass uns darüber sprechen. Du kannst noch einen Mehlsack über Bord werfen, wenn du unbedingt willst – dafür brauchst du beide Hände. Aber bitte, leg erst einmal die Waffe weg.«
Statt dem Folge zu leisten, richtete Grant die Pistole auf Wexford und schrie weiter: »Ihr seid Schuld, ihr verfluchter Bastard! Eure Entscheidung hat uns alle verflucht! Wenn ihr euch nicht bei der HMS Hercules eingemischt hättet, wäre uns das Elend erspart geblieben!«
Nathalien wurde hellhörig. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft auf der Celandine hörte er etwas über die HMS Hercules – jenes Schiff, dessen Schicksal ihn seit Jahren beschäftigte und der wahre Grund war, warum er überhaupt zwischen diese Männer gemischt hatte. Er musterte den Captain aufmerksam, während Grant fiebrig weiterschrie.
»Sie hat es gewusst! Ich hätte auf sie hören sollen, ich hätte niemals zur See fahren sollen! Und Ihr, Wexford – Ihr werdet mit mir gehen! Ich sterbe nicht allein, hört Ihr? Wenn ich heute sterbe, dann nehme ich Euch mit mir!«
Wexford verzog angewidert den Mund, spuckte zur Seite und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Grant, wie immer fällst du mir in den Rücken. Du niederträchtige Ratte, du weißt überhaupt nicht, wovon du redest. Also halt gefälligst die Fresse und steck diese verfluchte Pistole weg!«
Grant schrie wütend auf und hob die Pistole in Höhe des Kopfes von Wexford.
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Philippa durchsuchte weiter die chaotischen Regale der schmutzigen Kombüse und stieß dabei auf eine freudige Überraschung. Hinter zwei großen, schweren Gläsern, gefüllt mit einer trüben Flüssigkeit und eingelegtem Obst oder Tomaten, befand sich etwas in einem sauberen Tuch sorgfältig verborgen. Neugierig und gleichzeitig voller Hoffnung zog sie das Bündel hervor und öffnete es vorsichtig.
Zu ihrer Entzückung enthüllte das Tuch ein Stück Brot. Es war nicht frisch im eigentlichen Sinne – sicherlich mindestens drei oder vier Tage alt – aber in diesem Moment schien es ihr wie das köstlichste Mahl, das sie je gesehen hatte. Ihr Magen knurrte laut, und sie beschloss ohne weiteres Zögern, das Brot zu verspeisen.
Während sie genüsslich auf dem Brot herumkaute und die trockene, aber dennoch wohlschmeckende Konsistenz genoss, bemerkte sie, wie sich augenblicklich ihre Stimmung hob. Endlich bekam sie etwas zu Essen, endlich fühlte sie sich nicht mehr so verloren und kraftlos.
In ihrer Abgeschiedenheit lauschte den tumultartige Stimmen auf dem Deck. Irgendetwas ging da oben seit dreißig Minuten vor sich, denn die Unruhe war deutlich bis zu ihr zu vernehmen. Sie beschloss, fürs Erste in der Kombüse zu bleiben und sich lieber auf sich und ihr unerwartetes Mahl zu konzentrieren.
Während sie kaute, kam ihr der Gedanke, dass Brot noch viel besser mit Marmelade schmeckte. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Zuhause und den Momenten, in denen sie frisch gebackenes Brot mit köstlicher Marmelade oder sogar dem exquisiten Feigenaufstrich genießen durfte, den ihre Mutter stets aus dem Orient importieren ließ. Eine Delikatesse, die zu besonderen Anlässen oder am Sonntag serviert wurde.
Philippa schaute sich um und überlegte, ob es wohl möglich war, dass sich auf diesem Schiff Marmelade oder vielleicht sogar Feigenaufstrich befand? Immerhin segelte es durch exotische Gewässer und machte an verschiedenen Häfen Halt. Wer wusste schon, welche Köstlichkeiten hier noch unter all dem Dreck verborgen lagen?
Voller neuer Hoffnung begann sie, die Regale gründlich nach dieser süßen, wünschenswerten Ergänzung zu ihrem kargen Mahl zu durchsuchen.
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Alle hielten die Luft an, als Grant einen Schritt auf Wexford zu ging, doch statt abzudrücken, richtete er die Waffe gegen sich selbst. Die Hand zitterte, seine Augen waren fiebrig und verzweifelt. Das Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich in seinem verzerrten Gesicht, und das Knarren der Planken unter seinen Füßen verstärkte die unheilvolle Stimmung der nächtlichen Szene.
»Ihr habt mich so weit gebracht!«, rief er, seine Stimme dünn vor Panik und Schmerz. »Ich kann einfach nicht mehr weitermachen!« Sein Blick wanderte hektisch zwischen den Crewmitgliedern hin und her, bis er schließlich auf Wexford ruhte, dessen Gesicht im Schatten seines Hutes lag. »Es ist vorbei!«
Captain Wexford lachte.
Nathalien trat von der Seite vorsichtig einen Schritt auf Grant zu, während die Mannschaft mit angehaltenem Atem zusah.
»Grant«, sprach Nathalien mit sanfter, eindringlicher Stimme und hielt die Hände beruhigend ausgestreckt. »Hört mir zu. Ihr musst …«
Grants Atem ging schneller, seine Hand zitterte heftiger, und während Nathalien noch sprach, hob Grant die Pistole und drehte sie, bis der Lauf direkt zwischen seine Augen zeigte, dann zuckte Grants Finger am Abzug. Ein lauter Knall zerriss die Nacht, und Grants Körper sackte in sich zusammen, stürzte schwer auf das Deck, wo er reglos liegen blieb. Ein dünner Rauchfaden stieg von der Pistole auf und verflüchtigte sich in der kalten, salzigen Luft.
Eine tiefe, schockierte Stille legte sich über die gesamte Mannschaft, die fassungslos und wie erstarrt auf Grants leblose Gestalt starrte. Niemand bewegte sich, niemand sprach ein Wort. Das einzige Geräusch war das leise Knarren der Planken unter ihren Füßen und das sanfte Rauschen der Wellen, die gegen den Rumpf des Schiffes schlugen.
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Philippa hatte das versteckte Brot vollständig aufgegessen und fühlte sich besser. Sie beschloss, dass ihre Bemühungen in der Küche genug waren, und kam zu dem Schluss, dass es besser war, schlafen zu gehen. Gerade als sie die Kombüse verlassen wollte, ertönte ein lauter Knall von oben, gefolgt von tiefer Stille.
Sie blieb erschrocken stehen und lauschte angespannt, versuchte, das Geräusch zuzuordnen. War das vielleicht eine Pistole gewesen, oder einfach nur ein heruntergefallenes Fass? Sie konnte es nicht genau sagen. Die plötzliche Stille danach beunruhigte sie noch mehr.
Philippa schluckte die aufkommende Angst herunter, denn das, was am wahrscheinlichsten war, war eingetreten: Der Kapitän oder Mr. Ashcroft mussten in die Luft geschossen haben, um dem Tumult h ein Ende zu setzen. Eine überfällige Gäste, ihrer Meinung nach. Sie vermutete, dass auch ihre verschwundene Hilfe vermutlich oben auf Deck war, um seiner Arbeit zu entgehen. Philippas Erschöpfung hinderte sie daran, sich noch länger darüber Gedanken machen zu wollen, und sie kehrte der Kombüse den Rücken zu.
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Nathalien näherte sich vorsichtig dem reglosen Körper von Grant. Er kniete nieder und prüfte dessen Puls. Nichts. Grant lebte nicht mehr. Dobrovolsky kniete sich ihm gegenüber, drehte Grant um, und schüttelte den Kopf.
»Tot«, stellte er das Offensichtliche fest.
Ein schweres Schweigen breitete sich auf dem Deck aus, unterbrochen von Wexford höhnischen Lachen. Der hob gleichgültig seine Flasche und kommentierte trocken:
»Zu weich für die See, machte sich ständig unnötige Gedanken. Er war einfach nicht geschaffen für das Leben auf dem Meer.«
Mit diesen Worten wandte er sich um und stapfte Richtung Unterdeck.
»Wo zur Hölle steckt Thorne?« murmelte er im Gehen, während er die Flasche an die Lippen hob. »Irgendjemand soll endlich etwas zu essen machen!«
Nathalien blieb bei der Leiche und fragte sich, was er nun tun sollte. Sollte er Grants Körper in ein Tuch wickeln und bis Frankreich mitnehmen? Oder wäre es angemessener und auch sicherer für sie alle, ihn über Bord zu werfen? Wer sollte das entscheiden – er selbst oder die Männer, mit denen Grant jahrelang gesegelt war?
Um sich das Leben leichter zu machen, entschied er diese Entscheidung der Crew zu überlassen. Dringender schien es ihm, sich um die Verpflegung zu kümmern. Die Mannschaft hatte seit mindestens zwei Tagen nichts Vernünftiges zu essen bekommen, und wenn er nicht bald etwas dagegen unternahm, würde sie es früher oder später tatsächlich mit einer Meuterei zu tun bekommen.
Nathalien wandte sich ab und ging entschlossen in Richtung Kombüse, um herauszufinden, wie weit das wirre Weibstück mit dem Kochen war.
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Philippa war im Begriff einzuschlummern. Der Tag neigte sich seinem verdienten Ende zu. Der schlimmste Tag ihres Lebens. Noch nie zuvor hatte sie so viele Probleme, so viel Ärger, so viel Stress auf einmal erlebt. Sie fühlte sich erschöpft, ihr Kopf dröhnte, ihre Glieder waren schwer.
Plötzlich riss die von ihr mit einer Kiste barrikadierte Tür mit einem Krachen auf. Philippa schreckte hoch, ihre Augen weiteten sich, als Mr. Ashcroft hereinstürmte.
»In die Küche mit dir!«, herrschte er sie an. »Was, bei allen Gezeiten, glaubst du, was du hier machst?«
Philippa blinzelte benommen, setzte sich auf und rieb sich die Augen.
»Lasst mich in Ruhe«, erwiderte sie ebenso wütend. »Ich muss schlafen und mich erholen. Dieser Tag ist zu viel für meine Nerven.«
»Was kümmert mich das?«
Empört über diese Frage öffnete sie den Mund und schloss ihn sogleich wieder. Sein Blick war hart und unnachgiebig. Ohne ein weiteres Wort packte er sie grob am Ellbogen, seine Finger schlossen sich fest um ihren Arm. Philippa riss sich instinktiv zurück, schlug mit der flachen Hand nach ihm, doch er wich aus, zog sie mit einem Ruck auf die Beine.
»Lass mich los, du verdammter ... Lurch!«, keuchte sie, trat nach ihm, doch ihr nackter Fuß prallte nur gegen sein Schienbein, was ihn nicht einmal zum Zucken brachte. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie sich wand und ihn anschrie, dass er sich schämen solle, dass das eine Unverschämtheit sei, eine Lady wie Vieh zu behandeln.
Er ließ sich davon nicht beirren. Mit einem stoischen Ausdruck auf dem Gesicht schleifte er sie energisch den Gang entlang, stur gegen ihr Gezeter und Gezappel, vorbei an verwitterten Planken, rostigen Bullaugen und den verdutzt dreinblickenden Matrosen, die hastig zur Seite traten. Ihre Füße schleiften über das Holz und ein abgerissener Ärmel ihres Kleides flatterte an ihrem Arm.
Er ignorierte ihre Beschimpfungen und konzentrierte sich einzig auf sein Ziel: die Kombüse. Mit einer entschlossenen Bewegung stieß er die Tür auf, warf sie hinein und zog die Tür wieder zu. Sie schlug donnernd ins Schloss.
»Du kommst hier erst wieder raus, wenn du genug Essen für zwanzig Mann gekocht hast!«, rief er laut durch die Tür.
Dann korrigierte er sich: »Neunzehn!«

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