Kapitel I, Szene II
- Leah Hasjak
- 23. Juni
- 6 Min. Lesezeit
Die Glocke schlug. Einmal. Zweimal. Dreimal. Natalien ignorierte sie. Vor ihm türmten sich Leinenbeutel, Fässer, ein Eimer mit Trockenobst und einer mit gepökeltem Rind – letzterer roch zu streng, selbst für seinen Geschmack.
»Das«, sagte er und tippte dagegen, »hält keine vier Wochen. Seht euch das Salz an. Grobkörnig, schlecht vermischt. Wenn ich das an Bord nehme, kann ich die Ratten gleich mit zum Festmahl einladen.«
Der Händler – ein breitschultriger Elsässer mit fleischigen Händen – verzog keine Miene. »Sechs Pfund. Ist ein guter Preis.«
»Für wen? Für eure Schwiegermutter vielleicht. Ich geb euch vier. Und nur, wenn das Kompottfass da hinten dabei ist.«
Der Elsässer blinzelte. Dann nickte er wortlos. Kein Handschlag. Nur ein stummes Ziehen mit dem Kopf. Natalien griff in seinen Mantel, reichte die Münzen, und nahm kommentarlos das Wechselgeld entgegen.
»Halt!«, sagte der Mann, als Natalien sich zum Gehen wandte. Ohne Eile griff der Mann mit der rechten Hand unter seine dreckige Schürze. Natalien Laune sank augenblicklich wie ein Stein in tiefes Wasser.
Der Umschlag, den er entgegennahm, war nicht beschriftet, die schlichte Kordel wirkte wie eine Provokation. Ein unangenehmes Ziehen ergriff ihn, ein leises Grollen, das sich in seinem Brustkorb ausbreitete. Es ließ ihn innerlich straucheln – er wusste, dass dieser Umschlag nichts Gutes bedeutete. Natalien steckte ihn dennoch ein, ohne hinzusehen.
Die Glocke schlug erneut. Diesmal schneller. Ein gleichmäßiges Bing-bimm-BING-bimm wie von einem übermotivierten Schuljungen.
»Ihr«, kommentierte der Händler trocken und unnötig, »seid spät dran.«
Natalien drehte sich um. Am Rand des Platzes, neben einem Haufen leerer Muschelkisten, stand Jamie – dünn, mit aufgerissenen Knien, die Hände in den Hosentaschen, den rechten Fuß auf einem abgebrochenen Poller aufgestellt, den er in gleichmäßigen Abständen gegen das Holz knallen ließ. Tock. Tock. Tock.
»Na los«, sagte er und griff sich die Eimer. »Ich nehme das Fleisch und das Trockenobst. Du hilfst mir mit dem Seil.«
Jamie löste sich vom Poller und sah ihn misstrauisch an. »Ich schlepp keine Fässer.«
»Würde ich dir mit so dünnen Armen auch nicht zumuten.«
»Die sind nicht dünn. Die sind nur lang, deswegen sehen sie dünner aus. Ma sagt, wenn ich ausgewachsen bin, dann passt es mit der Größe wieder.«
Natalien deutete mit dem Kinn auf die Zurrseile, die der Händler ihnen achtlos dazu geworfen hatte.
»Du kannst mir helfen das Fass festzuzurren. Und wenn du dabei nicht umfällst, bekommst du ein Stück Trockenapfel.«
Der Junge schnaubte. »Gib mir eine Handvoll, und ich mach dir den Knoten richtig.«
»Das will ich sehen.«
Jamie bückte sich, prüfte einen der Seile mit gespielt kritischem Blick. Natalien beobachtete ihn, sagte aber nichts weiter, als der Junge sich ans Werk machte und ein Netz knotete, um dieses über das Fass zu spannen. Gemeinsam sicherten sie das letzte Fass auf einem kleinen Bollerwagen. Das unaufhörliche Läuten der Glocke drang wieder zu ihnen. Natalien zog den Mantel fester um sich und spürte das Gewicht des Briefes in der Tasche.
Jamie stapfte vornweg, den Wagen mit seinen dürren, muskulösen Armen hinter sich her ziehend. Die Planken des Kais hallten unter ihren Schritten, irgendwo weiter vorn schepperte noch immer die Glocke – ungeduldig, taktlos, regelmäßig wie Zahnschmerzen.
Natalien spürte, wie sein Magen sich mit jedem Schritt verkrampfte. Die Probleme türmten sich. Der Kapitän war seit gestern betrunken, lag noch immer in seiner Hängematte und rezitierte im Halbschlaf Lukrez,. Der Mann hatte die Hälfte der letzten Fahrt verschlafen und wird auch von der nächsten nichts mitbekommen. Natalien, sein erster Offizier, biss bei dem Gedanken die Zähne aufeinander. Alles blieb an ihm hängen. Die Ladung. Die Navigation. Das Anheuern. Der Papierkram, den sie nicht hatten, weil sie unter falscher Flagge segelten. Der Hafenmeister, den sie dafür bestechen mussten. Und dieser Brief. Verfluchter Brief –
»Wohin geht es diesmal?« fragte Jamie und blieb abrupt stehen, als würde ihm erst jetzt klar werden, dass sie gleich aufbrechen würden.
»Karibik.«
»Das ist groß.«
Natalien seufzte. Der Schiffsjunge war ihm für einen Schiffsjungen zu frech. Er vermisste Maurice, ein kräftiger Bursche, maulfaul und genügsam war der gewesen, ehe ihn die Cholera dahingerafft hatte. Mit 13 Jahren. Schade, doch immerhin hatte er die Welt bis dahin umsegeln können. In seinen letzten Tagen hatte er das betont, immer wieder. War ihm wichtig gewesen.
»Karibik, wohin genau?«, wollte Jamie beharrlich wissen. Das machte Natalien misstrauisch. Unnötigerweise.
»Warum willst du wissen? Hast du ein Liebchen da?«, fragte Natalien gereizt und sah zu dem 11 Jährigen Jungen herunter, der, aus Trotz keine Antwort zu erhalten, inne hielt.
»In jedem Hafen zwei.«
Jamie sah trotzig zu ihm hoch. Er hatte kein Respekt und keine Angst. Mit so einem Charakter gab es nur zwei Möglichkeiten für ihn. Entweder kam er damit weit oder er krepierte in der nächsten Spelunke, weil er an den Falschen geriet.
Natalien gab nach.
»Zuerst durch den Ärmelkanal. Dann bei Vigo anlegen – neue Vorräte einholen. Danach Cadiz. Dort nehmen wir Ware auf. Danach offenes Meer. Madeira lassen wir links liegen, vielleicht ein paar Tage auf den Kapverden. Wenn der Wind günstig steht, kreuzen wir bei Martinique. Und dann—« Er schwieg kurz. »Dann schauen wir, wer uns erwartet.«
»Was laden wir in Cadiz?«
»Schnaps. Stoffe. Das Übliche.«
»Was, wenn sie uns diesmal –?«
»Tun sie nicht.«
»Und wenn –«
Natalien zuckte mit den Schultern. »Dann sind wir ein armes Handelsschiff, das sich verfahren hat. Und du bist ein hilfloser Junge, der nicht lesen kann und nicht wusste, bei wem er da anheuerte, als er sein krakliges X unter den Vertrag setzte.«
»Ich kann lesen.«
»Dann übst du's besser, bald nicht mehr zu können.«
Sie erreichten die Gangway. Das Schiff lag träge im Wasser, als wollte es selbst nicht aufbrechen.
Die Celandine.
Bei ihren Anblick kam Natalien ein unbequeme Gedanke, und zwar dass in nicht allzu ferner Zukunft weder er noch die Celandine zu etwas taugen würden, wenn das so weiter ging.
Während sie das Pökelfleisch, die Gläser und das Fass gemeinsam zum Schiff brachten, lief er die Route in Gedanken durch, die er am Vortag festgelegt hatte und von der er nun minimal abweichen musste. Eine Woche mehr, nicht viel –
Bing-bimm-BING-bimm!
Die Glocke erklang erneut schrill neben ihn – dieses Mal überlaut und ohne jeden Anlass. Natalien knirschte mit den Zähnen.
»Mr. Grant!«, rief er scharf hoch.
Der Bootsmann, ein Matrose mit ordentlichem Hemd und übertriebenem Pflichtbewusstsein, sah über die Reling. »Aye, Sir?«“
»Wenn Ihr noch einmal die Glocke schlagt, obwohl ihr mich SEHT, stopf ich euch den Klöppel in den Mund.«
»Jawohl, Sir.« Mr. Grant verschwand ohne weiteren Kommentar.
Natalien wandte sich ab, überquerte die Planke, trat ans Geländer der Celandine und blickte kurz in den Himmel. Die Sonne stand hoch, hell, glühend – die Uhrzeit stimmte. Zehn Minuten Vorlauf, dann sollte das Schiff sich lösen.
»Planke einholen. Großsegel los. Ruder frei. Leinen! Jetzt.«
Die Mannschaft reagierte ohne Zögern. Die Bewegungen waren eingeübt, fließend. Fast jeder Mann an Bord hatte mindestens zehn oder fünfzehn Jahre auf See verbracht. Jeder wusste, was er tat. Natalien verharrte einen Moment. Er hörte das Knarren der Planken, das Zischen der gespannten Seile, den ersten, dumpfen Widerstand des Wassers gegen den Kiel. Er war erneut verantwortlich – nicht weil er wollte, sondern weil niemand sonst sich dazu aufraffen wollte.
Das Schiff setzte sich langsam in Bewegung. Die Taue spannten sich, das Ruder ruckte leicht nach Steuerbord. Die Celandine schob sich träge, fast widerwillig vom Kai, als müsse sie selbst erst überzeugt werden, dass es wirklich losging.
Natalien stand am Heck, beide Hände auf das nasse Holz der Reling gestützt, und sah dem Hafen beim Verschwinden zu. Die Glocke war verstummt. Die Möwen kreisten nun etwas weiter entfernt, über den Fischkarren und den alten Molenpfählen, zwischen denen noch abgerissene Netzfetzen hingen.
Er atmete durch. Kein tiefer Seufzer, sondern kontrolliert. Der erste Seegang unter den Stiefeln. Leichtes Rollen. Bewegung. Erneut ging er die Ladung im Kopf durch und wusste, ohne einen Blick ins Lager zu werfen, dass sie nicht genug bei sich hatten. Vielleicht sollten sie zwei, drei kleine Umwege machen. Küstennahe Segler abfangen. Schmuggler oder kleine Händler, die ohnehin niemand vermisste. Die Männer brauchten etwas, das sie motivierte. Die Stimmung an Bord war flach, das Silber spärlich. Die Männer erwartete mehr. Mehr Lohn, mehr Sinn, mehr Risiko. Und er konnte es ihnen nicht verdenken. Sie waren nicht zum Spaß auf der Celandine.
Das Schiff trieb nun klar in Richtung offenes Meer. Die Geräusche vom Hafen verstummten. Der Geruch nach fauligem Tang, Seil und Mensch weichte dem frischen Geruch der See. Natalien richtete sich auf und ohne einen weiteren Kommentar ging er unter Deck, den Gang entlang zu seiner Kabine.

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