Kapitel I - Szene III & IV
- Leah Hasjak
- 2. Juli
- 7 Min. Lesezeit
Philippa schreckte hoch. Taghelles Licht fiel durch den schmalen Spalt des Bullauges.
Ein kehliges Lallen drang durch die dünne Kabinenwand, begleitet von einem unsteten Rhythmus, der an das Brummen einer betrunkenen Grille erinnerte. Sie lauschte. Das war kein Lied, kein wirklicher Gesang – eher ein Ton, der aus einem Körper kam, der sich seiner Umwelt vollständig entledigt hatte.
Sie setzte sich auf. Die Decke war verrutscht, das Kissen feucht. Die Luft stickig. Miss Hawish war nicht da. Wahrscheinlich schmollte sie noch immer und wartete darauf, dass Philippa den ersten Schritt tat.
Philippa ballte die Hände in den Stoff ihres Rockes. Die Frau war wie ihre Mutter. Empfindlich. Nachtragend. Und unfähig, eine Kleinigkeit in den Wind zu schlagen.
Das Lallen wurde lauter, begleitet von einem schnalzenden Laut. Urplötzlich wurde es von einem lauten, unüberhörbaren Furz unterbrochen, der durch die dünne Wand vibrierte. Philippa verzog das Gesicht; das Geräusch war so schamlos, sie hatte noch nie zuvor etwas Vergleichbares gehört.
Wütend schlug sie mit der flachen Hand gegen die Wand. Ein Mal. Zwei Mal. Ein tiefes Poltern von der anderen Seite – aber keine Pause.
Sie hob trotzig das Kinn. Ohne Miss Hawish in ihrer Nähe, musste sie sich wohl selbst darum kümmern. Vielleicht war das gar nicht so schlecht. Auf diese Weise konnte sie üben, sich zu behaupten. Und eines Tages auch gegen ihre Mutter.
Kleine Schritte, kleiner Schritte.
Philippa richtete das Kleid. Zwei Atemzüge. Dann öffnete sie die Tür zur Kabine – ein ging hinaus in eine Welt, in der sie zeigen konnte, dass sie solche Situationen selbst regeln konnte.
Kaum draußen, stieß sie beinahe mit einem Mann zusammen. Er war etwa Mitte dreißig. Dunkles Haar, das ihm in einer nachlässigen Bewegung bis an den Kragen fiel. Ein angedeuteter Bart. Haltung. Ehemaliger Soldat? Seine Überraschung war unübersehbar. Er trat sofort erschrocken einen halben Schritt zurück.
Philippa wich nicht aus.
»Verzeihung!«, sagte sie scharf. »Neben meiner Kabine befindet sich ein Besoffener. Ich bin eine Dame, und ich halte es für untragbar, dass man mir das zumutet.« Ihre Stimme blieb gefasst. Der Blick fest. »Ich erwarte, dass Ihr Euch darum kümmert. Auf der Stelle!«
Oh, dachte Philippa, das war gut. Ihre Stimme war schneidig und fest gewesen. Ohne Zittern und den Blick, den hatte sie die ganze Zeit halten können.
Der Mann sagte nichts, sondern sah an ihr vorbei auf die besagte Kabine. Das Lallen hinter ihr begann erneut – jetzt in einem neuen Takt. Schluckauf mischte sich hinein.
Philippa blieb aufrecht stehen, nicht bereit zu weichen. Nach einer langen Sekunde, die mit noch mehr Lallen befüllt wurde, seufzte er und sah er sie mit einer Mischung aus Misstrauen und Verärgerung an.
»Versucht Samuel, unser notgeiler Bock, schon wieder, sein Liebchen an Bord zu schmuggeln? Hm? Kaum ist Land in Sicht, schleppt er irgendein Weib an Bord. Als wären wir ein fahrendes Bordell.«
Das Wort „Bordell“ traf Philippa wie ein Schlag. Ihre Wangen begannen augenblicklich zu glühen, ein feuriges Rot, das sich unaufhaltsam ausbreitete. Empört riss sie den Mund auf, doch noch ehe sie eine Erwiderung hervorbrachte, schloss sie ihn wieder, zwang sich zur Beherrschung. Sie durfte sich jetzt nicht aus dem Konzept bringen lassen—nicht von so einer plumpen Entgleisung. Der Mann war nicht von Rang, und das hörte man.
Sie sammelte sich, zog den Kopf ein Stück höher und zwang sich, noch standhafter zu wirken. Sie kannte dieses Muster. Diese Art, das eigentliche Problem zu überdecken, indem man ein anderes aufbauscht. Genau das hatte Miss Hawish perfektioniert. Ihre Mutter ebenso.
Also tat sie, was sie sich bei den beiden nicht traute: Sie blieb bei ihrer Forderung. Unbeirrt, unnachgiebig, eisern höflich.
»Ich verbitte mir, über das Liebesleben irgendeines Matrosen aufgeklärt zu werden«, erwiderte sie scharf. »Es interessiert mich nicht, ob jemand namens Samuel zum zwölften Mal sein Herz oder seinen Verstand verloren hat. Ich weise Euch darauf hin, dass in der Kabine nebenan ein Mann liegt, der sich benimmt wie ein Tier. Und ich erwarte, dass er entfernt, zum Schweigen gebracht und ausgenüchtert wird. Auf der Stelle!«
Statt sich um das Problem zu kümmern und sich zu fügen, trat der Mann einen Schritt zur Seite und deutete mit einem knappen Nicken die Richtung zum Deck an – als sei damit alles gesagt.
Philippa zögerte. Miss Hawish würde ihr Recht geben, sobald sie hörte, worum es hier ging. Und wenn nicht – spätestens wenn dieser Mann erfuhr, wessen Tochter sie war, würde sich alles fügen. Also straffte sie die Schultern und schritt an ihm vorbei.
Sie stieg die schmale Treppe zum Deck empor, einen Fuß vor den anderen, während sie sich innerlich wappnete. Gleich würde sie ihm, mit ihrer Anstandsdame an der Seite, mit voller Standeswucht begegnen.
Oben auf dem Deck herrschte geschäftiges Treiben. Die Matrosen waren noch damit beschäftigt, die letzten Griffe zu erledigen, um das Schiff seetüchtig zu machen. Der Hafen lag längst außer Sicht. Der Kerlneben ihr blickte suchend umher und ließ den Blick zu den Segeln wandern.
»Mr. Raven! Kommt herunter!«
Oben am Großsegel bewegte sich etwas. Eine Gestalt schwang sich behände an einem Tau herab und landete mit einem dumpfen Aufprall direkt vor ihren Füßen. Er richtete sich auf, grinste – und zwinkerte Philippa zu. Sie trat instinktiv einen Schritt zurück. Empört.
Ihr Begleiter verschränkte die Arme und deutete mit dem Kopf auf sie. Der Matrose, etwa Ende zwanzig, mit sonnenverbrannter Haut und einem dichten Haarschopf, zuckte die Schultern.
»Nee, Mr. Hemsley, mit der habe ich nichts am Hut. So eine kann ich mir nicht leisten.« Und an sie gewandt. »Hübsch seid Ihr, Madame, das muss man euch lassen!«
Er zog die Mütze und verbeugte sich – halb galant, halb Karikatur eines Höflings. Dabei entblößte er eine Zahnreihe mit deutlichen Lücken. Philippa wich einen weiteren Schritt zurück. Ihr Blick suchte nach Miss Hawish. Vergeblich.
Mr. Hemsley drehte sich halb, ließ den Blick über das Deck schweifen und rief: »Wer von euch Nichtsnutzen hat eine Hure auf dieses Schiff geschmuggelt?“
Philippa zog scharf die Luft ein. Hatte er sie tatsächlich als … als … als … sie konnte das Wort nicht einmal denken! Er sah ihren geschockten Ausdruck und verdrehte die Augen.
»Die Hure möchte nicht als solche bezeichnet werden, mein Fehler. Also – wer hat diese junge Dame – auf dieses gottverlassenen Kutter geschmuggelt? Hatte ich mich das letzte Mal nicht deutlich genug ausgedrückt?« Dann rief er lauter: »Der Bastard meldet sich jetzt sofort und holt sich seine verdammten Peitschenhiebe ab, oder es droht Schlimmeres. Ich hab keine Zeit für Rätselspiele.«
»Man sollte euch den Mund mit Seife auswischen, Mr!«, erwiderte Philippa geschockt und stemmte die Hände in die Hüfte. »Und selbst dann würde man solch ein Mundwerk wie das Eure nicht sauber bekommen!«
Niemand meldete sich, stattdessen brachen einige, die sie hatten hören und verstehen können, soweit sie dem Englischen mächtig waren, in Gelächter aus. Mr. Hemsley, der sich als so etwas wie der Capitain dieses verwahrlosten Schiffs aufführte, sah sie an und fasste sich zwischen die Augen, um die Nasenwurzel zu massieren. Dabei stöhnte er laut, als hätte sie ihm mit ihren Worten etwas angetan.
Philippa hob das Kinn. » Ich bin dieses Theater leid und möchte mich solch einer Sprache nicht weiter aussetzen! Wo ist Miss Hawish? Wo ist meine Anstandsdame?«
Immer mehr Männer traten zu ihnen heran, oder kamen von den Segeln heruntergesprungen. Sie lachten und zeigten sich deutlich amüsiert. Dann kroch zwischen zwei Taue ein Junge hervor, etwa zehn Jahre alt, die Haare zerzaust, das Gesicht rot vom Wind.
»Was ist eine Anstandsdame?« fragte er laut. »Ist das auch eine Art Hure?«
•
Seit einer Viertelstunde hörte man sie unter Deck. Die Fremde. Ihre Stimme durchzog den unteren Gang mit schnattriger Unruhe. Sie schrie nach einer Miss Hammond – oder Hawish – irgendetwas in der Richtung. Zwischen den Rufen erklärte sie, dass sie die Tochter eines Marquis sei. Dass ihre Mutter einen Salon in London führe, besucht von Ministern, Künstlern und einem General. Und ihr Onkel sei der auch sehr wichtig.
Ihre Stimme schwankte zwischen Empörung, Anklage und Verzweiflung. Sie verbat sich den Umgang, der ihr hier widerfuhr. Die Anspielungen. Die Frechheiten. Mehrmals betonte sie, dass sie sich das nicht gefallen lassen würde. Dann begann sie zu weinen. Erst lautlos, dann klagend, dann mit keifendem Unterton. Danach wurde sie wieder wütend.
Miss Hawish, drohte sie, würde man auf der Stelle entlassen. Kein Empfehlungsschreiben. Nicht nach dieser Farce. Sie werde das in London regeln. Persönlich.
Als niemand reagierte, rief sie schließlich durch die Lucke hoch, ob hier überhaupt jemand ihre Sprache verstünde. Kurz darauf wechselte sie ins Französische.
Natalien hörte sie durch das Schott. Er saß auf der untersten Stufe der kleinen Treppe zum Lagerraum, kaute an einem Apfel, das er mit dem Messer in Stücke schnitt, und ließ den Kopf gegen das Holz sinken. Das Französische klang flüssig, wütend, bildungsbürgerlich. Italienisch mischte sich hinein. Er verstand genug, um zu folgen. Für eine einfache Hure war sie zu wortgewandt. Für eine Dame benahm sie sich entschieden zu irrational.
Er hatte keine Ahnung, wer sie war. Aber sie brachte ihn zur Weißglut. Sollte er seinem Bauchgefühl vertrauen und Samuel dafür verantwortlich machen? Er musste es sein. War das wieder eines seiner cleveren Liebchen? Eine Schauspielerin vielleicht?
Was hatten die Frauen nur mit dem Mann? Ihm fehlten Zähne und er hatte den Charme eines fetten Esels, aber dennoch sprangen die Huren auf ihn an. Natalien verstand die Damenwelt nicht.
Sie begann erneut zu weinen. Schluchzte laut. Dann wieder Anklage. Und immer wieder dieser Name: Miss Hawish.
Natalien schloss die Augen. Und zählte rückwärts von zehn. Er beschloss, sie bei der nächstbesten Gelegenheit loszuwerden – und zwar dort, wo sie die Vorräte auffrischen wollten. In Vigo. Das war noch eine gute Woche entfernt, aber es würde reichen. Bis dahin würde er sie einfach ignorieren. Vollständige Missachtung – das war die einzige Strategie, die in solchen Fällen funktionierte.
Das Gezeter ging weiter. Er drückte sich vom Geländer hoch und stapfte in Richtung Lagerraum. Die Stimme der Fremden drang gedämpft durch die Decksplanken. Er ignorierte sie.
Währenddessen hatten sich oben die Männer um die Luke versammelt. Sie lauschten, tuschelten, grinsten. Einige lehnten sich über das Holz, um besser zu hören.

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