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PROLOG - 1773

  • Autorenbild: Leah Hasjak
    Leah Hasjak
  • vor 18 Minuten
  • 10 Min. Lesezeit
Kampf auf Hoher See
Kampf auf Hoher See

Zum zweiten Mal wurden die Planken geschrubbt, und dennoch glänzten sie nicht genug – jedenfalls nicht für die Admiralität, deren Weisung lautete, beschäftigte Männer planten keine Meuterei. Also schrubbte Tom Cooper. Wieder und wieder. In gleichmäßigen Bewegungen, die seine Knie schmerzen und seine Schultern brennen ließen.

Die Luft atmete sich zwar schwer, der Himmel war immerhin bedeckt. Die letzte Woche hatte die Sonne ihn wie auf einem Bratspieß auf See geröstet, doch heute verhielten sich die Wolken gnädig.

Noch immer Kein Land in Sicht. Nur das Schiff – die HMS Herakles – ein mittelschweres Linienschiff mit zwei Decks, sechzig Kanonen, gedrungenem Bug und einer abgenutzten, von Salzwasser zerfressenen Gallionsfigur, die Herakles eher wie einen lahmen Kutscher als einen göttlichen Halbgott wirken ließ.

Tom beugte sich tiefer über das Holz. Die Lauge brannte in der Nase, die Mischung aus Seewasser, Essig und Sand setzte den Schleimhäuten zu. Er war müde. Sehr müde. Die Art von Müdigkeit, die nicht vom Körper kommt, sondern von Gedanken, die keine Ruhe gaben.

Immer wieder dachte er an Mary. An das zweite Kind, das er nicht zu Gesicht bekommen hatte. An den Hain hinter dem Cottage, an den Duft nasser, warmer Erde, wenn Sommerregen auf harten Boden trifft. An den Wind, der durch die Fenster fuhr. Und an den letzten Brief. Der, der besagte:

 

»Es ist ein Mädchen. Beide sind wohlauf.«

 

Danach nichts mehr. Keine Zeile. Nur Stille. Zwei Jahre unterwegs, und keine Nachricht mehr von zu Hause. Mit jeden Tag wuchs seine Sorge. Warum antworteten sie nicht? Ging es Mary gut, und den Mädchen? Was, wenn sie verstorben war und man seine Kleinen ins Waisenhaus hatte stecken müssen. Oder hatte sich seine Schwester erbarmt, trotz der eigenen vier, die ihr bereits zur Last fielen?

Ein Ruck durchlief Tom, holte ihn aus seiner Grübelei. Er schüttelte sich. Ein seltsamer Geruch stieg seine Nase hoch - fremd inmitten des vertrauten Schrubbduftes.

»Riechst du das?«, fragte er Will.

Der hielt ebenfalls inne und hob den Kopf. »Pulver. Und Holz.«

Sie richteten sich auf. Zwei Männer unter vielen gesenkten Köpfen. Das Meer lag ruhig, doch der Wind trug den bitteren Hauch von Schwefel mit sich. Und da – ein dunkler Fleck am Horizont. Kaum mehr als ein Schatten im Dunst. Sie kamen ihm näher, steuerten auf ihn zu.

Ein anderes Schiff.

Der dunkle Fleck wurde größer, bedrohlicher. Die Männer auf der HMS Herakles hielten inne, ließen ihre Arbeit ruhen, die Bürsten und Eimer vergessen. Toms Atem ging schneller.

»Was ist da los?« murmelte er, ohne zu wissen, ob er Will oder einfach sich selbst fragte. Niemand antwortete. Der Wind trug den Schwefelgeruch heran, jetzt beißend, und der von den Schiffen ausgehende Rauch färbte den Himmel in dunklem Orange. Ein schwaches Glühen, erst flackernd, dann beständig.

»Cooper, siehst du das auch?« In Wills Stimme lag Vorfreude und Aufregung. Unerwartetes war im Gange. Tom kniff die Augen zusammen. Hinter der Silhouette des anfliegenden Schiffs brannte ein weiteres Schiff. Oder das, was davon übrig war.

Die Flammen fraßen sich durch die Reling, die Segel waren bereits gefallen oder verbrannt. Die Masten standen wie verkohlte Zähne, zur Unkenntlichkeit entstellt. Tom erkannte es dennoch wieder. Ein holländisches Handelsschiff, das sie noch vor wenigen Tagen in der Bucht von São Vicente beim Be- und Entladen beobachtet hatten.

Das vordere Schiff – das, das näher kam – hisste die Flagge. Schwarz, mit zwei gekreuzten Schwertern. Eine Piratenflagge.

Die Morvane!

Die Morvane war kein unbekanntes Schiff. Eine Kaperbarke, berüchtigt für ihre Geschwindigkeit und ihre unberechenbaren Wendemanöver. Vierunddreißig Kanonen – zwanzig schwere, vierzehn leichte – jedes Jahr mit einem neuen Captain, einen, der seinen Vorgänger erschlug. Wer dieses Schiff befehligte, musste Nachts mit einem offenen Auge schlafen.

Ein Schrei erklang über das Deck der Herakles. Pfeifen, Rufe, Befehle. Die Offiziere kamen in Bewegung. Tom ließ sich, wie seine Kameraden, von der Aufregung anstecken. Ein Piratenschiff, ein echtes Piratenschiff – das roch nach Prisen, nach Gold, nach Rache.

Tom Cooper wollte auf seinen Posten eilen, als er einen weiteren Blick hinüber zum holländischen Schiff warf. Die Flammen leckten wie hungrige Tiere an den Überresten des Rumpfes. Da fiel ihm ein weiterer Fleck am Horizont ins Auge. Er war kaum auszumachen – ein Schatten, verborgen im Dunst, überlagert vom dramatischen Untergang des Handelsschiffs.

Tom kniff die Augen zusammen. Rechts der Morvane schob sich ein Schiff über die Kante des Horizonts. Schlanker, dunkler, ohne erkennbare Flagge oder Segelzeichen. Es glitt durchs Wasser, als würde es keinen Widerstand kennen. Seltsamerweise trübte dies die aufkommende Stimmung des nahendes und siegreichen Abenteuers.

Der Plan war klar: die Morvane einzukreisen, zu entern und sich die fette niederländische Beute zurück zu holen. Mr. Keene, der Bootsmann stieß Tom in die Seite. »Cooper, nicht träumen! Mit an die Gordinge mit dir!«

Sekunden später hatte er bereits das Tau in der Hand, zog mit an den dicken Strängen, während über ihm Segel flatterten, knallten, sich blähten. Die Herakles kam in Bewegung. Das Rattern der Rollen, das Poltern der Stiefel, die Kommandos, das metallische Kreischen von schwerem Gerät.

Vielleicht, dachte Tom, hatten sie Glück. Vielleicht konnte man die verbliebenen Holländer aus den Wasser ziehen. Vielleicht lebte jemand. 

»Was, meint ihr, haben die geladen?«, rief Keiler ihm und Will zu, während sie gemeinsam die Spieren neu sicherten.

Tom zog mit einem Ruck am letzten Strang, während der Gedanke durch seinen Kopf fegte. Tabak, Käse, Fleisch und vielleicht sogar Rum – Vorräte, die auf die Herakles gebracht werden könnten, wenn sie die Morvane erfolgreich eroberten.

»Weiber und Törtchen!«, rief Will lachend und bekam von Keene mit der flachen Hand eine übergebraten.

»Fresse! Dreh weiter! Träumen kannst du unter Deck!«

Tom konnte den Gedanken an reichhaltiges Essen nicht aus seinem Kopf verbannen – die Möglichkeit, die Vorräte der Holländer und Piraten zu retten, vielleicht sogar zu genießen, veranlasste seinen trockenen Mund zum Speichelfluss.

Die Herakles nahm Kurs auf das Piratenschiff, während ihre Begleiter auf parallelen Linien liefen, bereit, von drei Seiten zuzuschlagen – Backbord, Steuerbord, aus dem Tal. Doch plötzlich flaute das Kommando an den Offiziersplätzen ab. Die Stimmen wurden leiser. Blicke wanderten. Ferngläser wurden gehoben. Tom sah besorgt zu ihnen hoch. Hatte er sich das zweite Schiff also doch nicht eingebildet? Denn jetzt hatten auch sie es gesehen.

Sie zögerten, gaben keine neuen Kommandos, auch die Trommeln verstummten auf ein Zeichen hin. Etwas in der Ferne ließ die erfahrenen Männer innehalten. Für einen Kurswechsel war es jedoch zu spät. Der erste Offizier hob die Hand, das Trommeln erklang erneut, der Befehl war gegeben. Die drei Schiffe der Royal Navy setzten, wie ein Dreizack, die Herakles in der Mitte, die HMS Dauntless an Steuerbord und der HMS Resolute an Backbord, ihren Kurs auf die Morvane fort.

Mit jedem Trommelschlag stieg die Stimmung an. Wo zuvor Erschöpfung und stumme Resignation geherrscht hatten, blitzte Leben in den Augen der Matrosen auf. Nicht Freude, nicht Mut – sondern Erwartung. Die Aussicht auf Bewegung, auf Lärm, auf das Zischen von Pulver und das Krachen von Holz – das war besser als Deckschrubben. Schiffe wie die Morvane gab es nur noch wenige. Man würde in ganz England über nichts anderes sprechen, als über die Ergreifung der Mannschaft und die endgültige Vernichtung ihrer Schreckensherrschaft. Von heute auf morgen würden sie alle zu Helden werden.

Ein Ruck ging durch die Herakles, als die Segel hart in den Wind gestellt wurden. Die Trommeln gaben den Takt, Männer rannten, zogen Taue, kippten Pulverladungen, sicherten Ladestangen. Die Kanonenmannschaften begaben sich in Stellung. Fluchend, grinsend, mit rauen Stimmen.

Ein dumpfer Knall erklang – die Morvane, unbeeindruckt von ihrer unterlegenen Position, hatte zuerst gefeuert. Eine Testsalve vielleicht, oder der erste ernste Hieb. Kugeln zischten über das Wasser, sprengten Gischt und splitterten am Bug der Dauntless.

»Feuer erwidern!«, schrie der Kommandant. »Halbvolley! Ziel auf Ruderstand!«

Die Herakles erwiderte das Feuer. Ihre Geschütze donnerten, das Holz bebte unter dem Rückstoß. Pulverqualm stieg auf, der Geschmack von Salpeter lag auf der Zunge.

Gleichzeitig begannen die beiden Flaggschiffe, sich in einer sanften Kurve um die Morvane zu legen – wie Klingen, die sich schließen.

Auch das zweite Piratenschiff bewegte sich. Tom beobachtete es aus den Augenwinkel. Langsam, gemessen, beinahe desinteressiert. Es umrundete die Formation. Kein Feuer, keine Beschleunigung. Es könnte fliehen, könnte die Situation, in der man sich ausschließlich für die Morvane interessierte, für sich ausnutzen. Doch es verblieb in der Nähe. Warum?

»Das sind feige Hunde, was?« Keiler spuckte aus, als er Toms Blick folgte. »Wollen ihren Leuten nicht helfen, die Schweine. Schauen sich das an und hauen dann ab, sobald es für sie brenzlig wird.«

»Hmpf.« Tom zweifelte daran. Wären sie feige, sie wären schon längst davon. Die Morvane geriet tatsächlich in Bedrängnis t. Ihre Manöver wurden kürzer, ein Segel war beschädigt. Die Formation der Navy wirkte. Aus drei Richtungen näherten sie sich, bereit zum Entern.

Und dann feuerte das zweite Schiff. Eine einzelne Kugel. Aus einer unmöglichen Entfernung. Mit chirurgischer Präzision traf sie den Hauptmast der Herakles. Ein hölzerner Knall erklang, gefolgt vom Krachen splitternder Balken. Seile rissen, der Mast neigte sich – langsam, schwer, unwiderruflich. Männer schrien. Einer wurde unter dem fallenden Segel begraben. Ein anderer stürzte von der Rah.

Die Herakles schwankte. Die Ordnung zerfiel. Und aus der Deckmitte, wo das Holz aufplatzte, flogen ihnen die Splitter entgegen. Tom bückte sich, hörte Will schreien, der nicht rechtzeitig reagiert haben musste.

Die Morvane drehte hart nach Steuerbord, ihre Flanken öffneten sich und eine zweite Batterie Kanonen schob sich heraus, tieferliegend und massiver. Noch ehe jemand reagieren konnte, feuerte sie.

Drei Salven in Folge – präzise, brutal, verheerend. Sie trafen die HMS Resolute mit solcher Wucht, dass ganze Planken aus dem Rumpf herausgerissen wurden. Das Mitteldeck der Resolute wurde von einem der Geschosse durchbohrt, Wasser schoss hinein, Männer wurden wie Puppen durch die Luft geworfen. Binnen Minuten geriet das stolze Flaggschiff in eine gefährliche Schlagseite. Der Mast knickte, Taue stürzten in die See. Es war klar: dieses Schiff würde untergehen. Nicht jetzt sofort – aber in einer halben Stunde, vielleicht weniger.

Auch auf der Herakles schrien die Männer durcheinander. Der getroffene Hauptmast hatte das Schiff manövrierunfähig gemacht. Die Steuerung war eingeschränkt, das achtere Ruder beschädigt. Man trieb. Langsam. Hilflos. Während die Dauntless versuchte, sich zwischen das zweite Piratenschiff zu schieben, passierte das, wovor sich Tom insgeheim gefürchtet hatte: Die Morvane wandte sich nicht zur Flucht. Sie wandte sich zur Jagd.

Sie nahm Kurs auf die treibende Herakles. Die Segel blähten sich, das Ruder schwenkte, die Kanonen wurden zurückgezogen, wieder geladen. Sie kamen näher. Nicht mehr um zum Schießen. Jetzt zum Entern.

Alles um Tom war in Bewegung, Chaos, Lärm – aber in seinem Inneren wurde es stumm. Er konnte das Donnern der Kanonen kaum noch einordnen, das Splittern von Holz, das Krachen herabfallender Rahen, das panische Brüllen der Männer – es war, als stünde er neben sich. Als wäre sein Körper noch an Deck, während sein Verstand schon an einem anderen Ort weilte. Ein einziger Gedanke schälte sich aus dem Nebel: Wenn die Herakles unterging, würde er sterben. Nicht im Kampf. Nicht ehrenvoll. Sondern einfach – verschwinden. Das Meer war ihm, einen Bauernsohn, stets fremd geblieben, selbst nach all den Jahren auf See.

Die Briefe! Die Briefe seiner Mary!

Erschrocken fasste er sich an die Brust. Da, wo die Ledertasche sein sollte, war nichts als rauer Stoff. Er hatte sie heute unten gelassen. Weil das Wetter gut war. Weil er dachte, es wäre ein Tag wie jeder andere.

Sein Herz schlug panischer. Ohne sie wollte er nicht sterben. Nicht allein, ohne die, die er liebte, an seiner Seite. Er brauchte Mary. Er brauchte seine kleinen Töchter bei sich. Die kleine Zeichnung der Wiege, in der sie schliefen. Marys Gedichte an ihn. Ein Fluch kroch über seine Lippen. Wenn alles unterging – wenn sie verloren – dann wollte er wenigstens sterben mit diesen Zeilen auf der Brust.

Offiziere schrien durcheinander, einer schob einen anderen gegen den Niedergang, zwei Hände rangen um das Sprachrohr. Der Erste Offizier bellte Befehle, aber niemand reagierte. Der Pulvermeister brüllte nach mehr Schwarzpulver, während zwei Jungs versuchten, ein verkeiltes Tau aus dem Spill zu lösen. Tom duckte sich unter einem losen Segel, wich einem fallenden Balken aus und stolperte in Richtung Niedergang. Keene rief ihm etwas hinterher, aber er hörte ihn nicht. Oder wollte nicht.

Mit einem Satz war er auf der Treppe. Dunkelheit schlug ihm entgegen. Rauch. Hitze. Der Rumpf des Schiffes ächzte unter der Belastung, irgendwo tropfte Wasser auf heißes Metall, zischend, unheilvoll. Männer hasteten an ihm vorbei – blutend, fluchend, humpelnd. Einer trug einen anderen auf den Armen.

Er kannte den Weg. Jede Stufe, jede Ecke. Er rannte. Rutschte beinahe aus. Fing sich wieder. Da war sein Seesack, von Mary stolz genäht – vom Haken gerutscht zwischen zwei Kisten geklemmt. Tom riss ihn hervor, zitternd. Die Finger fanden das Leder und drückten sie an sich. Einen Moment lang hielt er sie fest an die Brust und sprach ein kurzes Gebet. Dann kam der nächste Einschlag.

Ein dumpfer Donnerschlag erschütterte das Schiff bis ins Mark. Tom wurde zurück gegen den Pfosten geschleudert, das Holz splitterte, Staub wirbelte auf. Der Rauch brannte in seinen Augen, die Hitze presste sich wie eine Decke auf seine Haut. Hustend und taumelnd rappelte er sich auf, den Lederbeutel mit den Briefen an die Brust gedrückt. Er musste zurück nach oben. Musste…

Eine Gestalt stand plötzlich vor ihm. Groß und hager. Ein Umhang hing von der Schulter, zerrissen und rußgeschwärzt. Die Silhouette war vertraut und doch fehl am Platz.

Admiral Lachlan Ardmore. Er hielt zwei Umschläge in der Hand. Weiß, sorgfältig gefaltet, mit einem Siegel versehen. Die Falte zwischen den Augen vertiefte sich, als er Tom sah und die Ledertasche mit den gesammelten Briefen darin. Mit rauer, belegter Stimme forderte er: »Mischen Sie meine unter.«

Tom schluckte. Jahrelang dazu gedrillt zu gehorchen, nahm er die Umschläge entgegen und stopfte sie zwischen Marys heiteren Sätzen.

»Wenn Sie gefangen werden… kein Wort darüber. Kein Wort, verstehen Sie? Auch nicht unter Schmerzen. Diese Briefe müssen nach England. Sie allein sind wichtig. Nicht dieses Schiff. Nicht Sie und nicht ich.«

»Soll ich sie einen der Offiziere –«

»Nein. Keinem vom Rang. Falls die Morvane jemanden verschont, dann die einfachen Matrosen. Sobald Sie englischen Boden betreten, suchen Sie Lord Kelsham. Übergeben Sie sie nur ihm. Niemandem sonst. Das ist ein Befehl«

Tom salutierte automatisch und ärgerte sich, dass diese Briefe zwischen denen von Mary lagen und auf absurde Weise sie und die Kinder bedrohte. Ehe er sich zu einer Entscheidung durchringen konnte, ob er zum ersten Mal in seinem Leben einen Befehl verweigerte, packte der Admiral ihn am Kragen, und schob ihn zur Treppe hoch. Mit fester Stimme, wie gewohnt bellend, schrie er Tom ins Ohr:

»Rauf mit Ihnen. Kämpfen Sie, wenn Sie können. Überleben Sie lieber, wenn Sie müssen.«

Dann stieß er ihn hoch, zurück ins Licht, zurück in das Chaos. Mit den Briefen an der Brust empfing ihn Oben die Hölle. Rauch hing in schweren Wolken über dem Schiff, die Segel waren zerfetzt, die Masten verstümmelt. Männer schrien, Blut tropfte auf nasses Holz, ein Körper lag reglos zwischen zerborstenen Planken. Der Geruch von Pulver, Metall und Angst lag wie eine zweite Haut auf allem. Was eben noch hektische Hoffnung, kampftrunkene Euphorie war, war nun blanke Panik. Die Männer blickten nicht mehr kämpferisch, sondern leer. Entsetzt. Viele hatten sich ihrer Waffen entledigt, hoben die Arme nach oben. Tom verstand sofort warum. Die Morvane war ihnen so nah, dass er Gesichter erkennen konnte. Hämisch lachende Fratzen. Ein Haufen Vagabunden, die sich gegenseitig auf die Schulter schlugen. Die auf das blutende, zerschossene Navy-Schiff zeigten, als wäre es nichts weiter als ein betrunkener Alter, der sie belustigte. Die Morvane hatte nicht nur das niederländische Handelsschiff versenkt, sie hatte die Royal Navy bis auf die Balken blamiert.

Mr. Lee Brown, der zweite Offizier, stand nahe der Reling. Er hielt einen kleinen Gegenstand in der Hand – eine Pistole. Eine jener fein verzierten, wie sie oft als Ehrenstück getragen wurden. Der Offizier sah niemanden an, starrte nur stur vor sich, hob die Waffe an die Schläfe und drückte ab. Ein kurzer Knall, dann fiel sein Körper nach hinten ins Meer.

Tom keuchte erschrocken. Sein Magen zog sich zusammen. Er wollte nicht sterben. Er wusste nicht, was jetzt geschehen würde. Ob die Morvane ihn töten würde. Ob sie ihn mitnahmen, fesselten, verhörten. Ob er jemals wieder festen Boden unter den Füßen spüren würde – Heimatboden. Das Cottage. Den Wind, der durchs offene Fenster ging.

Was würde aus ihm werden?

 
 
 

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