top of page

KAPITEL II - III

  • Autorenbild: Leah Hasjak
    Leah Hasjak
  • 20. Juli
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 21. Juli

[...]

Philippa atmete tief durch und sammelte sich. Der Gestank der Ratte in der Kombüse war unerträglich und verfolgte sie, also beschloss sie, sich auf dem Schiff umzusehen, um einen Ort zu finden, der weniger stank. Die Matrosen über ihr schienen mit sich selbst beschäftigt zu sein – also konnte sie sich ungestört einen Eindruck von der Lage verschaffen.

Eine Etage weiter unten war es stickig und finster, aber die Luft war wenigstens nicht mehr ganz so verwesen wie in ihrer Zelle. Die Mannschaftsquartiere bestanden aus grob gezimmerten Hängematten, durchhängenden Seilen und durcheinandergeworfenen Habseligkeiten. Überall lagen Kleidung, Werkzeuge, einzelne Stiefel – es roch nach altem Schweiß und Seesalz. Philippa fand, es sah nicht aus wie ein Ort, an dem man ruhig schlafen sollte oder konnte. Aber das dachte sie sich inzwischen über fast jeden Ort auf diesem Schiff.

Sie bog um eine Ecke und stand abrupt vor einem offenen Lagerraum. Dort schob ein hagerer, grauhaariger Mann mit wettergegerbtem Gesicht und zusammengekniffenen Augen Fässer und Säcke umher. Er murmelte dabei vor sich hin und schien in ein Gespräch mit jemand Unsichtbarem vertieft.

Philippa wollte zurücktreten, als er schrie, ohne sie anzusehen: »Das Mehl ist nass!«

»Wie bitte?«, entwich es ihr.

Er drehte sich um und deutete anklagend auf sie. »Zwei Säcke. Nass. Sag ich doch. Hab ich gesagt. Niemand hört auf Mr. Grant.«

Philippa öffnete den Mund, um ihn zu beschwichtigen, offensichtlich war der Mann aufgelöst wegen dem Mehl, aber da fuhr er schon wieder herum, starrte an ihr vorbei und zeigte auf ein paar Fässer. »Das da kann über Bord. Braucht kein Mensch.«

Sie folgte seinem Finger und schielte auf die Beschriftung. »Aber das ist … Kompott?«

»Braucht man nicht.«

»Aber was sollen die Matrosen trinken?«

»Manchmal ist es besser, nichts zu trinken. Macht den Geist klar.«

Philippa wollte den Rückzug antreten, im Bewusstsein, dass etwas mit dem Mann nicht stimmte, als er ein Fass ergriff und mit unerwarteter Kraft vor ihre Füße kippte. Es fiel um, der Deckel sprang auf, und ein Schwall frisch duftenden, fruchtigen Kompotts ergoss sich über den Boden. Früchte, teilweise noch ganz, rollten hinaus.

»Da. Siehst du? Verdorben. Hat's gleich gesagt.«

Sie wich zurück, unter dem fauligen Geruch des Schiffes mischte sich der süßliche Duft von in Zucker gekochten Früchten.

»Hilf mir! Der Rest muss weg. Umkippen sage ich!«

Philippa runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Wenn die Flüssigkeit sich weiter verteilt, sickert sie ins Holz. Und darunter. Dieses Schiff riecht jetzt schon streng ... «

Doch Mr. Grant hörte ihr gar nicht richtig zu. Er war bereits beim nächsten Fass. Philippa trat hinaus. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

»Seit zwanzig Jahren«, murmelte er, »seit zwanzig Jahren bin ich auf diesem Kahn. Eigentlich hätte ich schon längst Captain sein sollen. Damals, vor der Sache mit der der HMS Sussex. Aber keiner hört auf Mr. Grant. Niemand. Und das Mehl …«

Er redete weiter, während er das nächste Fass kippte. Eine klebrige Flüssigkeit hatte sich mittlerweile in ihre Richtung ausgebreitet, glänzte im Licht der Petroleumlampe. Der Geruch wurde süßer, dichter.

» … und dann, als wir damals an der Herkules vorbei sind, hab ich's gespürt. Die wollten mich loswerden. Weil ich zu viel wusste. Wegen dem verdammten Lagerbestand. Alles fing mit dem Mehl an. Immer das Mehl.«

Philippa fragte sich, ob sie ihn stoppen sollte – oder lieber einfach nur verschwinden. Vielleicht konnte sie sich irgendwo verstecken, zur Ruhe kommen, nachdenken. Oder – wenn sie ganz viel Glück hatte – ein einsames, leichtes Beiboot finden. Eines, in das sie einfach hineinspringen konnte, in der vagen Hoffnung, dass sie von dem englischen Kriegsschiff entdeckt werden würde.

Sie drehte sich um, hielt dabei Abstand zu der klebrigen Lache, die sich zähflüssig in Richtung ihren Schuhen ausbreitete, als oben plötzlich lautes Gerumpel ertönte. Geschrei, ein Durcheinander aus Stimmen, unter denen sie den lallenden Kapitän und den Matrosen erkannte, der sie vorhin aufgehalten hatte. Noch andere Stimmen mischten sich dazu, wild, aufgebracht und polternd.

 

 

Natalien rang mit Captain Wexford. Der Kapitän lag schreiend auf dem Boden, die Mütze verrutscht, während Natalien ihn mit beiden Händen niederdrückte. Wexford war stärker, als er aussah – und dabei so betrunken, dass er sich unberechenbar wandte. Natalien hatte Mühe, ihn zu fixieren.

»Nein!«, zischte Natalien. »Wir können nicht gegen sie kämpfen! Wir sind nicht ausgerüstet dafür. Die Kanonen haben keine Kugeln, verdammt nochmal! Seit Monaten ist das Schwarzpulver nass und verklumpt.«

Wexford bäumte sich auf, wild mit den Beinen tretend. »Meuterei! Verrat! Hängt ihn an die Planke!«

»Wenn die uns entern, verdammt nochmal, werden wir wegen Schmuggel hängen. Die Hälfte der Ladung ist noch unten – wir haben den Tabak in Vigo nicht losbekommen. Wenn die das Zeug finden –«

»Dann machen wir sie zuerst platt!«, spuckte Wexford, die Stimme überschlagend.

»Wir sind unbewaffnet!«, fauchte Natalien zurück. »Kaum einer trägt eine Waffe bei sich. Wollt Ihr mit Holzlöffeln gegen die Royal Navy kämpfen?«

»Ich bin der Käpt’n!«, brüllte Wexford und versuchte sich erneut aufzurichten. »Ich entscheide! Ich sage: Angriff! Ich sage: Tod oder Ruhm!«

Natalien stöhnte innerlich. Der Mann war völlig außer Kontrolle. Dazu kam ein Problem, das schwerer wog als jeder brüllende Kapitän: Der Brief. Dieser verfluchte Brief. Er durfte ihn nicht bei sich tragen – nicht, wenn sie gleich von der Navy gestoppt und durchsucht wurden. Und er konnte ihn auch nicht einfach über Bord werfen. Der Inhalt war zu wichtig. Zu viele Jahre hatten ihn an diesen Punkt geführt. Der Brief musste in Sicherheit –sie mussten entkommen. Alles andere war keine Option. Wenn die Navy ihn fand, mit diesem Stück Papier bei sich, wäre alles aus. Sein Leben, seine Freiheit, seine Abmachung mit der Krone.

Er presste Wexford die Hand auf den Mund. »Genug!«, knurrte er. »Jeder an seinen Posten! Segel weiter setzen! Wind nehmen!«

Ein paar Matrosen tauschten unsichere Blicke. Dobrovolsky, der Steuermann – ein älterer, wettergegerbter Mann – sah von Wexford zu Natalien, dann zu den Segeln. Schließlich nickte er knapp und ging zum Steuer.

»Bewegt euch!«, bellte Natalien. »Keiner kämpft. Jeder an seinen Posten. Wir verschwinden hier!«

Die Männer rührten sich. Wie aufgescheuchte Möwen stoben sie auseinander, rannten zu den Tauen, griffen nach den Segeln. Die Rahen knarrten, als die Segel wieder aufgezogen wurden. Das Schiff ruckte, neigte sich, dann schob es sich mit wachsender Geschwindigkeit durch die See.

Natalien stürmte zum Heck. Über dem glitzernden Wasser zeichnete sich die HMS Bracknell ab, ein schnittiges Kriegsschiff mit tief liegendem Rumpf und sauber gesetzten Segeln.

Schweiß glänzte auf den Stirnen der Matrosen, die sich in die Seile legten, schwitzten, fluchten, schrien. Die Celandine war kein schwerer Frachtsegler – sie war schlank gebaut, mit glattem Rumpf und einer niedrigen Silhouette. Unter normalen Umständen war sie schneller als jedes Schiff ihrer Klasse. Sie hatten eine realistische Chance.

Die Wellen schlugen gegen den Bug. Das Holz ächzte, Wasser spritzte über das Vorderdeck, während Männer die Ruder ausrichteten, Leinen straff zogen, Tücher festknoteten.

»Sie bleiben an uns dran!«, rief der Ausguck, Mr. Harlan. »Sie haben die Marssegel gesetzt und holen auf!«

»Macht die Celandine leicht!«, rief Nathalien.

Eine Handvoll Matrosen rannten unter Deck, um Ballast abzuwerfen – alte Fässer, Kisten, alles, was nicht lebensnotwendig war. Jedes Gramm zählte. Natalien spürte den Brief in seiner Brusttasche, schwerer als jede Fracht.

Wussten sie davon?

 

 

Währenddessen hatte Philippa sich unter Deck weitergetastet. Der Geruch von Kompott hing in ihrer Kleidung, aber wenigstens war sie dem Lagerraum entkommen. Vielleicht war in der Kapitänskajüte oder im Quartier des ersten Offiziers etwas zu finden, das ihr half zu verstehen, was hier wirklich vor sich ging und mit wem sie es zu tun hatte.

Sie betrat die Kabine des Kapitäns. Die Tür war nicht einmal verschlossen, mit guten Grund, denn niemand würde sich dort freiwillig aufhalten. Drinnen herrschte das blanke Durcheinander: offene Truhen, lose Seiten, zerknüllte Briefe, leere Flaschen, ein umgestoßener Stuhl. Es stank nach altem Alkohol, nach Körper, nach Wochen ohne Ordnung. Sie presste den Ärmel an die Nase.

Kaum hatte sie sich vorsichtig über einen Papierhaufen gebeugt, hörte sie von draußen das Poltern schwerer Schritte. Ein Matrose kam die Treppe hinunter, fluchte laut, schleppte etwas – Fässer? – unter Anstrengung nach oben. Im selben Moment scholl ein lauter Ruf durch das Schiff: »Grant! Was machst du da unten?!«

»Lagerstand prüfen!«, kam es zurück.

»Du lässt alles auslaufen, du alter Narr!« – das war eine andere Stimme, dann ein Rumpeln, ein Fluch – jemand war offenbar auf der sirupglitschigen Planke ausgerutscht.

Oben tobte das Chaos. Unten tobte das Chaos. Philippa stand erstarrt zwischen Dreck und rührte sich nicht. Über ihr gellte das Rufen von Kommandos, das Stampfen von Stiefeln. Irgendwo wurde etwas Schweres verschoben. Sie hörte, wie Männer aneinandergerieten – der Kapitän, der erste Offizier, andere Stimmen. Sie verstand kaum einzelne Worte, nur das Durcheinander, das Geschrei, den Wahnsinn.

»Oh mein Gott«, flüsterte sie angeekelt. »Was ist das nur für ein Ort?«

»Willst du was klauen?«, wollte eine junge Stimme hinter ihr wissen.

Philippa fuhr herum und sah den Jungen, Jimmy, der neugierig im Türrahmen stand und sie misstrauisch beobachtete. Sie schüttelte den Kopf.

»Hier gibt es nichts, was sich zu klauen lohnt.«

»Betrachtungssache. Für den einen ist es nichts wert, für den anderen ein Schatz. Muss nur wissen, wem man's gibt.«

»Das ist erstaunlich klug. Wie alt bist du?«

Jimmy hob trotzig das Kinn. »Zehn, fast elf! Wie alt bist du denn?«

Sie ärgerte sich über seinen Ton und die Vertrautheit, die er ihr gegenüber an den Tag legte, als wäre sie eine von ihnen.

»Einundzwanzig«, erwiderte sie ebenso trotzig. »Und im Übrigen bin ich eine Lady, und als solche will ich auch angesprochen werden.«

Jimmy lachte spöttisch. »Die andere Hure, die Samuel vor ein paar Monaten mal angeschleppt hatte, war auch der Meinung, sie sei was Besonderes. Hat auch versucht, was zu klauen.«

»Auch? Glaube mir, ich fasse hier nichts an, erst recht nicht freiwillig! Was ist mit ihr passiert? Habt ihr sie gehen lassen?«

»Jo, Natalien hat sie vor Lissabon über Bord geworfen. Musste in ihren Kleidern zurück zum Hafen schwimmen. Aber keine Sorge, die hatte Übung darin und nicht viel an.«

Philippa sah ihn schockiert an.

»Willkommen auf der Celandine, Mylady.« Jimmy verbeugte sich vor ihr spöttisch und wollte sich abwenden, doch Philippa hielt ihn zurück:

»Halt! Wer hat hier das Sagen auf diesem Schiff?«

Der Junge blieb stehen und runzelte nachdenklich die Stirn, als hätte er über diese Frage noch nie zuvor nachgedacht. Schließlich antwortete er langsam:

»Offiziell? Captain Wexford natürlich. Doch gerade eben wurde er von Mr. Ashcroft niedergerungen. Gut so, bei dem Mann muss definitiv eine Schraube rein, zack hier, da auch. Seit neusten trifft Mr. Ashcroft – jedenfalls meistens – die Entscheidungen. Er ist wohl der Klügste hier, aber nicht mal so lange an Bord wie ich. Und manchmal hat Mr. Grant das Sagen, aber in letzter Zeit ist er irgendwie ... seltsam. Von dem halte ich mich lieber fern.«

Philippa seufzte frustriert. »Also hat hier niemand das Sagen?«

Jimmy zuckte mit den Schultern. »Du verstehst das nicht. Das ist eine Männerangelegenheit. Männersachen sind kompliziert.«

Sie wollte erwidern, dass sie sich kaum vorstellen konnte, dass es kompliziert sei, ein ordentliches Kommando auf einem Schiff zu haben. Doch in diesem Moment hörte sie erneut das wilde Geschrei und Gepolter, das sowohl vom Deck als auch unter Deck ertönte. Sie betrachtete Jimmy genauer und sah die Verwirrung und auch Angst in seinem jungen Gesicht. Die Situation war ernst und beunruhigte ihn.

Sie seufzte und warf einen resignierten Blick auf den verwüsteten Schreibtisch vor ihr. Offenbar war das einzig Sinnvolle, was sie jetzt tun konnte, sich in die einzig halbwegs saubere Kabine zurückzuziehen und abzuwarten. Wahrscheinlich würde die Navy dieses Schiff früher oder später einholen. Bei dem Kommando und Zustand lediglich eine Frage von Zeit.

ree

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Kommentare


Danke! Die Nachricht wurde gesendet.

© 2018 by Leah Hasjak. Proudly created with Wix.com

  • Facebook Social Icon
  • Twitter Social Icon
  • Instagram Social Icon
bottom of page